Der Rocky aus Winterthur

Setting

Sommer 2009. Ich treffe den Regisseur von «Being Azem» zum Gespräch in seiner Wohnung an der Stauffacherstrasse auf dem Schaffhauser Emmersberg. Ecksofa, 52-Zoll-Flatscreen, Holzregalkombination mit einer Sammlung von mehreren hundert DVDs und ein gerahmtes Plakat von Rocky neben der Balkontür: «His whole life was a million-to-one-shot». Hier lebt und arbeitet ein animal cinématographique. Ein Autodidakt. Der Kroato-Schweizer Tomislav Meštrovi´c hat nie eine Filmschule besucht und drehte dennoch einen Dokumentarfilm ab, der vom Schweizer Fernsehen koproduziert worden ist.

Am Abend zuvor läuft Rocky auf SF1. Nachdem wir zwanzig Minuten über eventuelle Gemeinsamkeiten des Boxfilm-Klassikers mit «Being Azem» diskutiert haben, behauptet Tomislav: «Das ist doch genau der Traum, den jeder Mensch verfolgt. Etwas zu erreichen, das dir niemand zugetraut hat. Sich ein Ziel zu setzen und es gegen alle Hindernisse und Hürden zu erreichen. Rocky verkörpert das: Er ist am Boden und schafft es von dort in den Ring. Er bringt den unbesiegbar scheinenden Weltmeister an den Rand einer Niederlage. Er verliert zwar, doch er gewinnt etwas anderes: die Achtung der Welt.»

Character

Solange ich Tomislav kenne, ist er ein Mann grosser Geschichten. Vor fünf Jahren haben wir zusammen an einem Drehbuch gearbeitet. Gewachsen ist ein unverfilmbares Monster von einer Liebesgeschichte mitten im Bosnienkrieg. Ich bin irgendwann ausgestiegen, nach der dritten Absage für Fördergelder durch das Bundesamt für Kultur. Tomislav hat weiter gemacht, den ausgezeichneten Zürcher Kameramann Nicolà Settegrana ins Boot geholt und mit ihm 2006 die Filmfirma Pi-Filme gegründet. «Being Azem» ist ihr erster Kinofilm. Sie haben dreieinhalb Jahre daran gearbeitet. Das sind dreieinhalb Jahre ohne Entlöhnung und ohne Gewissheit, ob der Streifen schliesslich überhaupt in den Kinos laufen würde. Sie konnten keinen Verleiher von ihrem Projekt überzeugen. Wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, muss an sein Projekt glauben. Im Fall von «Being Azem» heisst das: an seinen Protagonisten.

Warum hast du gewusst: Dieses Projekt, das ist es?

Tomislav Meštrovi´c: Ich wusste es, als ich Azem zum ersten Mal traf. Vorher war es Theorie, wie ich jetzt über dich einen ungeheuer geilen Dokumentarfilm machen könnte, oder über deine Mutter. Wenn ich wüsste, du machst mit und ziehst am selben Strang. Bei einer Portraitdokumentation, bei der ein einzelner Mensch im Zentrum steht, ist es wichtig, dass dieser Mensch eine Vielschichtigkeit und eine Widersprüchlichkeit mit sich bringt, welche dir als Filmemacher Anlegemöglichkeiten bieten. Ich musste also zuerst herausfinden, ob Azem für das Medium Film geeignet ist – das ist er wie kein anderer.

Weshalb?

Ausstrahlung, Sprache, körperliche Präsenz, Humor, Theatralik. Er verbreitet gute Stimmung: Auf der Strasse in Bangkok zum Beispiel. Sechs Thailänder um ihn herum. Er spricht mit ihnen thailändisch. Er kann gar kein thailändisch – nur acht, vielleicht neun Wörter – und die mixt er immer wieder. Und alle lachen und klopfen ihm auf die Schultern und er ist der Geilste. Wir haben ihm aus dem Grund von Anfang an eine Kamera in die Hand gedrückt und abgemacht: «Azem, spätestens alle drei Tage filmst du dich selber und machst Tagebuch. Wie es dir geht, was dich beschäftigt, egal, direkt in die Kamera hinein.» Das hat er gemacht und es ergab fantastische Szenen. Zum Beispiel, eine Woche vor dem Kampf in Las Vegas.

Njomza filmt ihn. Er hockt im Büro auf dem Schreibtisch und schaut in die Kamera. Er beginnt, holt aus: «Alle haben was gegen mich, alle werfen mir Steine in den Weg, niemand hat mich gern. Ich sage keine Namen. Wer etwas gegen mich hat, weiss es schon. Aber das ist mir egal: ich lass mich nicht kaputt machen!» Er redet sich wirklich in Rage. Du merkst, da brechen jetzt alle Dämme. Es hat inhaltlich nichts mit dem Kampf in Las Vegas zu tun. Aber er ist deswegen so angespannt, dass jetzt alles raus muss. Das hätten wir nie erreicht, wenn wir mit dem Team da gewesen und ihn gefilmt hätten. Am Schluss hörst du Njomza hinter der Kamera, die versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Und Azem so: «Halt mal die Kamera gerade!» Sie: «Was!» Er: «Was, was!» Sie kriegt einen Lachanfall. Er verwirft die Hände und flucht: «ta qifsha nanen!» Eine grosse Szene! Warum ist Azem so geil? Weil er sich vorher nicht überlegt, wie er sein soll. Er ist so, wie er ist. Wir mussten ihn manchmal eher bremsen.

Business

Im Frühjahr 2006 gibt es für Meštrovi´c und Settegrana nach diversen kleineren Projekten nur zwei Gewissheiten. Die erste: Azem Maksutaj ist die ideale Figur für einen Dokumentarfilm. Die zweite: Azem fordert am 21. Mai in Stockholm den Schwergewichtsweltmeister Larry Lindwall im grössten Thaiboxverband WMC heraus. Es ist der wichtigste Thaiboxtitel überhaupt und der Kosovo-Schweizer Kampfsportler aus Winterthur kann es schaffen. Die beiden Filmemacher müssen handeln.

Tomislav Meštrovi´c: Wir wussten nur eins: wenn wir das nicht filmen, können wir es gerade so gut sein lassen, was auch immer kommen mag. Es musste einfach sein.

Wie stand es zu diesem Zeitpunkt um die Finanzierung des Projekts?

Wir haben querfinanziert, mit eigenem Geld. Parallel dazu haben wir Fördergelder beantragt. Die erste Zusage war dann eine mündliche, von Madeleine Hirsiger am Telefon. Ich habe Madeleine ja schon gekannt von «Styles». Zwei Tage später hat sie mir die Zusage in einer Mail bestätigt. Das war am Anfang des Drehs, Ende März, Anfang April 2006. Damit haben wir gewusst, gut, das Schweizer Fernsehen ist schon mal ein wichtiges Argument, wenn du in diesem Land einen Film machen willst. Entweder das SF oder das Bundesamt für Kultur. Eines von beiden musst du haben und damit öffnest du dir die Türen. Als zweites kam das Bundesamt für Kultur, die haben auch zugesagt. An dritter Stelle kam innerhalb dieser kurzen Frist Teleclub. Dann kam das Drehverbot. Solange das Projekt nicht ausfinanziert ist, darfst du vom Bundesamt für Kultur aus nicht vordrehen, ausser du hast eine Ausnahmebewilligung. Die haben wir beantragt und dann auch bekommen. Also haben wir gedreht.

Azem gewinnt. Der WMC-Titel im Schwergewicht ist der 14. Weltmeistertitel in Azems Kampfsportlerleben. Stockholm ist der Ausgangspunkt von «Being Azem». Danach kommt alles anders: Nur einen Monat später, als die Pi-Filme-Crew Azem nach Thailand begleitet, kommt eine Anfrage aus den USA. Azem soll in Las Vegas gegen Ray Sefo kämpfen. In der Königsklasse K-1. Es sei der «grösste Kampf seines Lebens» und Azem hat nur einen Monat Zeit, sich vorzubereiten. Bezwingt Azem den Neuseeländer Brocken, ist das sein Ticket fürs K-1-Halbfinale in Osaka.

Cut

Azem verliert den Kampf in Las Vegas gegen Ray Sefo. Technisches KO in der dritten Runde. Er ist sechsmal niedergeschlagen worden und darauf immer wieder aufgestanden. Das Publikum feiert ihn zwar frenetisch, der Traum von Osaka und vom K-1 World Grand Prix Finale in Tokyo ist jedoch ausgeträumt.

Tomislav Meštrovi´c: Im Oktober hatte er aber einen weiteren Kampf im K-1 in Stockholm. Wir dachten, das sei ein guter Schluss für den Film, obwohl er seine grösste Chance nicht gepackt hat. So à  la: er probiert’s weiter ins K-1. Dann bekommt er in Stockholm zum ersten Mal in seinem Leben in der ersten Runde auf die Fresse, KO. Wir: «Scheisse, was nun?» Erfahren dann aber, dass Njomza schwanger ist und dass er extra unten geblieben ist, weil er emotional völlig fertig war, weil alles drunter und drüber ging bei ihm in den Wochen vor dem Kampf. Und wir wissen, was der perfekte Schluss für unseren Film ist. Nicht der sportliche Aspekt, sondern die Familie: die Geburt des Kleinen.

Was bedeutete es für die Produktion eures Films, nicht zu wissen, wie es ausgeht?

Einerseits, dass wir ständig bereit sein mussten, um am nächsten Tag, oder wenn etwas unmittelbar bevorstand auch am selben Tag, irgendwohin zu fahren und zu filmen. Andererseits, dass du Sachen aufnehmen musst, die du nicht darfst, einfach aufs Risiko hin, dass alles zur Sau gehen kann. Wir haben in Las Vegas versucht, im Casino zu filmen. Das kannst du vergessen: Da sind gleich zwei, drei Cops hinter dir. Da können wir hundertmal sagen: «We‘re from Switzerland, Television! We make a documentary!» Interessiert die genau einen Scheiss. Oder auch bei K-1. Da gibt es Regeln und wenn du die nicht einhältst, nehmen sie dir die Kamera weg. Ebenen, die du nicht inszenieren kannst, sondern wo du dort sein und es riskieren musst. Filtern kannst du erst nachher. Wir hatten schlussendlich 150 Stunden Nettomaterial. Unsere erste geschnittene Version war neuneinhalb Stunden und wir fanden: alles genau das muss rein! Neuneinhalb Stunden!

Und dann: wegschneiden und weinen?

Da kannst du nicht einfach wegschneiden. Du musst einen neuen Film bauen, ganze Plotebenen weglassen!

Future

«Being Azem» endet mit der Geburt seines Kindes und dem sportlichen Abstieg von Azem Maksutaj. Er verpasst den Zeitpunkt, auf dem Zenit seiner Stärke abzutreten. Seit seinem Sieg 2006 gegen Lindwall ist er zweimal KO gegangen. Azem ist mittlerweile 34 Jahre alt und wiegt gut 94 Kilogramm. Als er anfing, zu kämpfen, war er 14 Jahre alt und wog knapp 60 Kilogramm.

Warum wollte Azem so hoch hinaus? Rein körperlich sind die Unterschiede zu den Gegnern im K-1 doch gewaltig.

Tomislav Meštrovi´c: Das Leben besteht nun mal aus Zielen und Herausforderungen. Wenn du irgendwann einmal schon zum vierten Mal gegen denselben Gegner kämpfen musstest, weil es einfach keinen besseren gibt, dann wird es dir irgendwann einmal langweilig, dann suchst du eine neue Herausforderung. Und seine Herausforderung war halt einfach dieser fucking Don Quijote, dieser Kampf gegen Windmühlen. Bis es nicht mehr ging.

Woher kommt denn bei ihm das Nicht-aufgeben-können? Ist es einfach der sportliche Ehrgeiz, der besonders ausgeprägt ist?

Das ist für mich ab einem gewissen Punkt rein vernunftmässig nicht mehr fassbar. Das ist ja beim Rauchen auch so: warum rauche ich, obwohl ich weiss: Ich bekomme Krebs und werde daran sterben? Das bewegt sich für mich in dieser Liga von Fragen. Warum kann er das nicht? Ich weiss es nicht. Es spielt für mich aber auch keine Rolle, weil das eine Gegebenheit ist, eine Konstante in einer Welt von Variablen; Azems Welt ist eine Welt von Variablen. Das ist mir gestern auch wieder bewusst geworden, als ich an der Struktur des Films gearbeitet habe. Du merkst einfach dieses unglaubliche Hin und Her, diese Dynamik von Veränderungen und Entwicklungen, von Auf und Ab’s, die es in Azems Leben und Umfeld gegeben hat. Allein schon in diesen anderthalb Jahren, in denen wir gefilmt haben.

Anders gewendet, wenn du nicht sagen kannst, es kommt von da: Wohin führt es, dieses Sich-ständig-steigern-Müssen im Fall von Azem?

Es führt zur Frustration. Das ist, glaube ich, bei den meisten Sportlern so; Azem unterscheidet sich da nicht von einem Fussballer oder anderen Sportlern, die keine Ausbildung haben. Die nichts haben, auf das sie sich nach ihrer aktiven Karriere zurückfallen lassen können. Azems einzige Perspektive ist der Kampfsport, also das Thaiboxen. Es gibt nichts anderes.

Also Trainer, Manager oder Promoter?

Ja, wobei das dann natürlich nicht dasselbe ist. Das sieht man auch bei anderen Sportlern: die schönste Zeit ist immer die aktive Zeit. Dass man die so lange wie möglich verlängert und aufrecht erhalten will, ist auch klar. Zumal es auf dieser Ebene des Kampfsportes so ist, dass es selten einen gibt, der wirklich genug Geld verdient oder überhaupt genug Geld verdienen kann, so dass er irgendwann mal sagen kann: «Easy, ich kann jetzt aufhören, ich bin abgesichert. Ich habe genug verdient, genug erreicht.» Gibt es einfach selten. Da sind die einen paar Grossen, die Top- 5 oder Top-6, die man aus dem Fernsehen kennt. Der Rest kann nicht wirklich reich werden. Das ist zuerst mal eine finanzielle Frage. Der andere Punkt ist einfach, dass es sonst irgendwann einmal von Natur aus dazu kommen wird, dass er merkt: Er kann nicht mehr mithalten. Das hat biologische Gründe. Je älter der Körper wird und je mehr Schläge du dir einfängst, desto langsamer wird dein Reaktionsverhalten. Und wenn du im Kampfsport längere Reaktionszeiten hast, hast du verloren. Wenn du dich nicht mehr schützen kannst, bekommst du mehr Schläge ab. Und je mehr Schläge du abbekommst, desto mehr gewöhnt sich dein Körper und dein Kopf daran. Das heisst: Je öfter du in deiner Karriere KO gehst, desto einfacher ist es, dich KO zu schlagen. Früher oder später geht das allen alten Kampfsportlern so. Sie verlieren nur noch. Oder sie kämpfen gegen absolute Luschen. Aber dort gibt es ja nichts zu verdienen. Wie auch immer: Irgendwann wird es dazu führen, dass er aufhören muss. Rechtzeitig, hoffe ich.