Ein Filmemacher zwischen Ruinen

Ray Smith lebt mit dem Militär, dem Geheimdienst und 20’000 palästinensischen Flüchtlingen in den Ruinen Nahr al-Bareds.

Libanon. Nahr al-Bared. Fünfzehn Kilometer Luftlinie von der Nordgrenze zu Syrien. Ein Flüchtlingslager der PalästinenserInnen. Teilzeitwohnort von Ray Smith und ein Wohnort auf Zeit für die 20‘000 PalästinenserInnen, die dort leben und auf Veränderung warten.

Ray ist der einzige Ausländer, der hin und wieder einige Monate in der Militärzone zwischen dem zerstörten alten Camp auf UN-Gebiet und dem libanesischen Staatsgebiet, in dem das zivile Recht gilt, verbringt. Wird er beim Filmen in der Militärzone erwischt, kann er «verhaftet, bisschen eingeknastet und deportiert werden», wie er sagt.

Ray stellt das Bier beiseite, beginnt den Vortrag: «Unterbräched mi, wenn’r Froge hend.» Das runde Dutzend, das den Weg ins Kasama an der Zürcher Militärstrasse gefunden hat, ist eine bunte Mischung von Jung und Alt. Fragen gibt es noch keine, aber eine Bitte. «Natürlich, sorry, Hochdeutsch, klar, vergass ich zu fragen», meint Ray und stoppt die Präsentation auf der Leinwand. Die Einführung ist kurz, Ray will sich nicht wiederholen und die meisten sind nicht zum ersten Mal bei einem seiner Vorträge zu Gast. Sie kennen die Geschichte des Camps.

Im Herbst 2007 kehrte Ray Smith mit den Flüchtlingen nach Nahr al-Bared zurück. Im Mai desselben Jahres war es zu den heftigsten Gefechten im Libanon seit Ende des Bürgerkriegs von 1989 gekommen, nachdem angeblich Kämpfer der radikal-islamistischen Fatah al-Islam einen Banküberfall verübten. Die KämpferInnen hatten sich im alten Camp von Nahr al-Bared verschanzt, worauf die libanesische Armee das Camp wochenlang belagerte, die KämpferInnen schliesslich besiegte und das Camp vollständig zerstörte.

Zwei Drittel der PalästinenserInnen kehrten zurück. Sie zogen ins Aussenquartier neben ihrem verminten und zerschossenen alten Wohnort. Das neue Camp ist auf libanesischem Staatsgebiet, von der Regierung als Militärzone deklariert und mit fünf Checkpoints abgeriegelt.

Schon ein Jahr vor den Gefechten war Ray zum ersten Mal in Nahr al-Bared. Mit seiner Arbeit begann er ein Jahr später, als er in einem anderen Camp weiter südlich versuchte, eine Gruppe junger Leute filmtechnisch zu schulen, damit sie nach ihrer Rückkehr die Lage in Nahr al-Bared dokumentieren können. Mit der Kamera und eisernem Willen treibt sich Ray seit 2007 immer wieder einige Monate im Jahr im provisorischen Camp herum. Von seiner Wohnung braucht er zu Fuss eine Viertelstunde bis ans andere Ende des neuen Camps, einen Bus gibt es selbstverständlich nicht.

Den letzten Film drehte er über einen Rapper, den er persönlich kennt und immer wieder besucht. Er kennt ohnehin an jeder Ecke jemanden und braucht unterdessen weit mehr als eine Viertelstunde, wenn er ans andere Ende will. Beinahe so kleinräumig wie in der Zürcher Militärstrasse, wo sich alle duzen. «Warum sagt der Rapper, dass er zurück nach Palästina will? Warum will er sich nicht integrieren?», fragt eine junge Frau mit ausgefransten Jeans, nachdem das Musikvideo des Rappers ausgeklungen ist. Ray meint: «Sobald du die Kamera in der Hand hast, sagt dir das jeder. Aber sie wollen nicht unbedingt zurück. Er will schlicht eine Zukunft, ob in Europa oder im Libanon.»

Die persönlichen Motive lässt Ray bei seinen Vorträgen aussen vor. Wichtiger ist die Lage in Nahr al-Bared. «Die interessantesten Geschichten erfahre ich informell beim Kaffee oder in den Sammeltaxis», sagt Ray. Auf der offenen Strasse hört er wenig, filmen muss er versteckt bei den PalästinenserInnen zu Hause, im Geschäft oder in einer der unzähligen Ruinen. Normalerweise durchqueren die JournalistInnen das Camp nur flankiert von SoldatInnen oder vom Geheimdienst, unzufriedene Leute treffen sie dabei natürlich nicht.

Etwa den jungen Frisör, der sofort ins Ausland verschwinden würde, wenn er könnte. Den Rapper, den es wegzieht, nach Beirut, weil er dort nicht zwischen Ruinen eingeklemmt ist. Den Schreiner, dessen Qualitätsprodukte nicht mehr gefragt sind, weil die libanesische Kundschaft von ausserhalb des Camps fehlt. Das Geschäft in der Militärzone liegt brach, die Perspektiven sind düster. Daran konnte auch Ray nichts ändern. «Ich leiste Hilfe zur Selbsthilfe», meint er. Sein Ziel ist es, dass die palästinensischen Flüchtlinge selbst filmen und selbst über ihre Lage berichten. Deshalb hat er mehrfach Kameras ins Camp geschmuggelt. Dass seine Arbeit bisher keine Früchte trug, deprimiert ihn nicht. «Es ist nicht das erste Mal, dass es nicht funktioniert.»

Dennoch bleibt er hartnäckig. Die Wiederaufbauarbeiten des alten Camps kommen langsam ins Rollen. «Einige Jahre wird es noch gehen», sagt Ray. Doch das Camp soll unter libanesischer Führung geleitet werden. Und das verheisst nicht unbedingt Gutes. Den palästinensischen Flüchtlingen werden verschiedene Grundrechte verwehrt. Etwa das Recht auf Arbeit, das durch ein Berufsverbot für rund zwanzig Berufe eingeschränkt wird, wie das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) berichtet. Was auf die palästinensischen Flüchtlinge zukommen wird, bleibt offen. Sie wünschen sich das alte Camp auf UN-Gebiet mit eigener Regierung zurück.

Abseits des Kasama in Zürich nimmt an diesem Abend kaum einer Kenntnis von der Lage in Nahr al-Bared. Die Medien haben ihren Blick weiter im Süden, an der libanesisch-israelischen Grenze. Ray Smith richtet seine Botschaften primär an die LibanesInnen und die PalästinenserInnen.

Dennoch ist er auch in Europa für Vorträge unterwegs. Zürich, Coppet, Lausanne. Eine Woche später hat er nicht nur einige Vorträge hinter sich, er hat auch arabische O-Töne für seinen neuesten Film aufgenommen und ihn auf die Homepage des Filmkollektivs a-films hochgeladen. Mit den Vorträgen deckt er einzig die technischen Ausgaben, für die Reise kommt er selbst auf.

Die Einreise ins Camp wird allerdings immer schwieriger. Die libanesische Regierung hat die Einreisebestimmungen verschärft. Früher konnte Ray über die UNRWA bei der Armee eine Bewilligung beantragen. Nun akzeptiert die Armee die UNRWA nicht mehr als Mediatorin. Zu gefährlich ist es ihm noch nicht, aber gewisse Sorgen hat er schon, ansonsten wäre er nicht unter einem Pseudonym unterwegs. Doch er relativiert: «Ich habe von 2002 bis 2007 regelmässig in Nablus oder Palästina gearbeitet und dort weit krassere Dinge getan und erlebt. Die Gefahr in Nahr al-Bared ist für meine einheimischen Freunde weit grösser.»