Manuel Käppler schreibt zum 1. Mai über das Ziel linker Politik und die Besitzstandswahrung der Bürgerlichen.
In den Vereinigten Staaten werden Linke vom politischen Gegner seit kurzem nicht mehr als ‹liberals› sondern als ‹progressives›, also als Fortschrittliche, bezeichnet. Ein treffenderes Bild für den Urgedanken linker Politik gibt es nicht, beruht sie doch auf der Überzeugung, dass der Mensch fähig ist, sich von der grenzenlosen Konkurrenz zur Kooperation weiterzuentwickeln.
Die ideale Gesellschaft, in der die Bürger frei von Zwängen und ohne irgendwelche Staatseingriffe ein friedliches und prosperierendes Leben führen, mag zwar unerreichbar scheinen, doch wir können ihr stetig näher kommen. Wer diese Vision aber gänzlich ablehnt, offenbart damit sein fehlendes Vertrauen in die Menschheit. Menschen, die dies ohne weiteres tun, sind als Konservative bekannt.
Die meisten konservativen Ideen waren aber einst auch progressiv. Im Laufe der Generationen und im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung stiegen immer wieder Gesellschaftsschichten auf und nahmen sich dann der Besitzstandswahrung an. Am besten sieht man dies bei den Freisinnigen, die sich in Berufung auf ihre ehemaligen Überzeugungen «Liberale» nennen. Doch nachdem der moderne Bundesstaat mit den für sie wichtigen Grundsätzen gefestigt war, begannen sie, den Status Quo zu sichern. Die Linke dagegen hat sich höhere Ziele gesetzt. Sie hat von den Idealen der französischen Revolution nicht nur Freiheit und Gleichheit übernommen, sondern eben auch die Brüderlichkeit, heute geschlechtsneutral Solidarität genannt.
Wer wandert, weiss, dass Fortschritt immer mit Anstrengung verbunden ist. Dies gilt speziell dann, wenn grosse Teile der Wandergruppe gar nicht zum Ziel kommen wollen – sei es, dass sie aus der momentanen Lage Vorteile ziehen, sei es, dass sie die Hoffnung auf die Ankunft aufgegeben haben. Da hilft es nur, mit gutem Beispiel voran zu gehen und die Zögernden zu ermuntern.
In der Politik heisst das, Solidarität im Alltag zu leben; es heisst auch, Missstände aufzudecken, um Argumente für den Aufbruch zu finden; und zuletzt heisst es, die Vision stets neu zu zeichnen: die Gesellschaft der Träume, die Realität werden kann, wenn man denn nur will. Deshalb kommen an jedem ersten Mai die Linken dieser Welt zusammen und zeigen, dass sie – endlich – weitergehen wollen. Und zu diesem ersten Mai erscheint auch eine neue Ausgabe des Lappi – tue d’´Augen uf! die Sie jetzt gerade in den Händen halten.