Steuergerechtigkeit ist ein Mythos. Immerhin: In einem besonders stossenden Fall hat nun das Bundesgericht ein Machtwort gesprochen.
Nach einer Beschwerde wurde das Berner Steuergesetz vom höchsten Gericht der Schweiz auf seine Verfassungsmässigkeit hin überprüft. Mit Urteil vom 25. September 2009 hat das Gericht einzelne Bestimmungen über die Besteuerung von AktionärInnen aufgehoben. Auch im Schaffhauser Recht existieren identische Bestimmungen, welche nun als verfassungswidrig erkannt sind.
Ausgangspunkt der fragwürdigen Bestimmungen war die Unternehmenssteuerreform II, welche vom Bundesrat im Jahr 2001 in Vernehmlassung gegeben wurde. Das bundesrätliche Hauptziel war die Milderung der steuerlichen Doppelbelastung von Unternehmen und AktionärInnen. Wenn Unternehmen ihren Gewinn zuerst versteuern und ihn dann in Form von Dividenden an die AktionärInnen ausschütten, wäre es nichts als gerecht, wenn die AktionärInnen diesen Gewinn nicht ein zweites Mal vollständig versteuern müssten. Diese Logik schlug sich in der Bestimmung nieder, dass fortan Aktionäre, die an einer Aktiengesellschaft mit mehr als 10 Prozent beteiligt sind, die ausgeschütteten Dividenden nur zu 60 Prozent versteuern müssen.
Freilich war diese Denkweise nicht unbestritten. Linke, GewerkschafterInnen und StaatsrechtlerInnen haben schwere Bedenken betreffend der Verfassungsmässigkeit der Regelung angemeldet. Sie sahen sowohl das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als auch das Gebot der Rechtsgleichheit verletzt. Ein Steuergesetz, welches die EigentümerInnen einer 9-Prozent-Beteiligung höher besteuert als die EigentümerInnen einer 12-Prozent-Beteiligung, müsse zwingend gegen die Bundesverfassung verstossen.
Ausserdem sei zu berücksichtigen, dass es sich bei Unternehmung und AktionärInnen um zwei verschiedene rechtliche Personen mit jeweils eigenen Ansprüchen ans Gemeinwesen handle. Eine in Privathaushalten tätige Reinigungskraft zahle auch nicht nur auf einen Teil ihres Lohns Steuern, obwohl der Arbeitgeber sein Einkommen bereits versteuert habe. Insofern könne von einer ungerechtfertigten steuerlichen Doppelbelastung nicht die Rede sein.
Durchsetzen konnten sich diese Einwände nicht. Das Schweizer Stimmvolk hat der Reform nach siebenjähriger zäher Debatte am 24. Februar 2008 nach einer eigentlichen Abstimmungsschlacht mit 50.5 Prozent der Stimmen zugestimmt. Parallel dazu haben zwischen 2004 und 2009 18 Kantone ähnliche und in der Regel über die Bundesbestimmungen hinausgehende Gesetze erlassen.
Damit ist eine gerichtliche Überprüfung der Bestimmungen möglich geworden. Während Bundesgesetze nämlich selbst dann angewandt werden müssen, wenn das Bundesgericht sie als verfassungswidrig betrachtet, können kantonale Gesetze direkt auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden. Zwar stellen sich Bundesbestimmungen – ob verfassungsmässig oder nicht – wie eine Schutzwand vor die kantonalen Erlasse.
Wenn die Kantone aber Bestimmungen erlassen, welche den bundesrechtlichen Schutzwall überlappen, können diese Gesetzesartikel angefochten werden. Das war sowohl in Bern als auch in Schaffhausen der Fall. Beide Kantone gingen weiter, als im Bundesgesetz vorgesehen, indem sie zum Beispiel neben der 10-Prozent-Beteiligung auch eine Beteiligung im Wert von zwei Millionen Franken als ausreichend deklarierten, um in den Genuss des Steuerprivilegs zu kommen. Anstelle besonderer unternehmerischer Verantwortung reichte plötzlich auch besonderer Reichtum.
Jetzt hat das Bundesgericht im Berner Fall sämtliche Bestimmungen, welche sich nicht direkt hinter dem Schutzschild Bundesgesetz verstecken können, als verfassungswidrig taxiert und sogleich aufgehoben. Ausserdem lässt es in seiner Urteilsbegründung keinen Zweifel daran aufkommen, dass es auch die durch Bundesgesetz geschützte Teilbesteuerungspraxis als verfassungswidrig betrachtet. Das ist eine politische Exponierung, welche das Bundesgericht nur sehr selten wagt.
Damit hat das Bundesgericht zum zweiten Mal innert kürzester Frist Gesetzesbestimmung im kantonalen Steuerrecht kassiert. Der Fall Obwalden mit dem degressiven Steuertarif für Superreiche lässt grüssen. Bundesrat und bürgerliche Parteien haben in beiden Fällen keine Ungerechtigkeit feststellen können – oder wahrscheinlich vielmehr nicht feststellen wollen. Das muss zu denken geben.