«Reichtum ohne Leistung»

Auslese

Die 225 reichsten Menschen besitzen mehr, als die ärmere Hälfte der Welt. Als ehemaliger Chefstatistiker des Kantons Zürich kennt Hans Kissling die Zahlen, die belegen, dass die Vermögen in der Schweiz, die als entwickeltes, demokratisches Land mit breitem Mittelstand gilt, sogar noch ungleicher verteilt sind als im weltweiten Durchschnitt. Im Kanton Zürich besitzen die reichsten drei Personen mehr Vermögen als die ärmere Hälfte aller Steuerpflichtigen. Die hundert Reichsten besitzen gleich viel wie 550’000 oder drei Viertel aller Steuerpflichtigen.

Doch Kissling liefert nicht nur Zahlen, er bezieht auch Stellung. Die Eigentumsordnung der Marktwirtschaft hält er für gerechtfertigt, wenn nur die persönlichen Fähigkeiten darüber bestimmen, wer für Führungspositionen ausgewählt wird und hohe Einkommen erhält. Eine Marktwirtschaft, in der Chancengleichheit herrscht, steht im Gegensatz zum Feudalismus, wo die Höhe der Einkommen davon abhängt, in welche Familie man hineingeboren wurde.

Man kann lange darüber streiten, welche Löhne für welche Leistungen angemessen sind. Die Debatte um Boni und Managergehälter bezeichnet Hans Kissling aber als Ablenkungsmanöver. Den eigentlichen Skandal sieht er im Reichtum ohne Leistung. Geerbte Grossvermögen, aus denen hohe Einkommen in Form von Zins- und Dividendengewinnen entstehen, sind viel häufiger als Manager mit Millionengehältern. Schon mit einem Erbe von fünf Millionen Franken erzielt man ohne einen Finger zu rühren problemlos ein jährliches Einkommen von 200’000 Franken.

In den 90er Jahren fand ein bisher unerreichter Feudalisierungsschub statt. Durch die Deregulierung der Finanzmärkte, spekulative Finanzinstrumente und das Aufkommen der Kommunikationstechnologien boten sich einmalige Möglichkeiten, in die Klasse der Superreichen aufzusteigen. Dadurch ist die Zahl der Grossvermögen, die in Zukunft vererbt werden, markant gestiegen. In den nächsten 30 Jahren erben jährlich etwa dreissig Personen mehr als hundert Millionen und vier Personen über eine Milliarde Franken. Diese Superreichen nehmen Einfluss auf Politik und Wirtschaft und besetzen Führungspositionen, ohne sich im Leistungswettbewerb bewähren zu müssen.

Ein solcher Geldadel passt nicht in eine faire Marktwirtschaft. Darum schlägt Hans Kissling eine nationale Erbschafts- und Schenkungssteuer von 50 Prozent auf Vermögen von über zwei Millionen Franken vor. Damit alleine wird Chancengleichheit nicht erreicht, aber das Wachstum von ohnehin schon gigantischen ererbtenVermögen könnte grösstenteils ausgebremst werden.