Die 80-Personen-WG

Weitab von der öffentlichen ­Aufmerksamkeit: In Buch steht ein Durchgangszentrum für Asylsuchende.

Buch ist ein kleines, beschauliches Dorf am Rande des Kantons Schaffhausen mit rund 300 Einwohnern. Es liegt unmittelbar an der deutschen Grenze. Viele Einwohner sind Bauern, auch ein paar moderne Einfamilienhäuser säumen die Strassen – aber ein grosses altes Haus am Dorfrand fällt auf. Es macht einen sehr alten Eindruck und scheint teilweise sanierungsbedürftig. Man denkt an ein verlassenes Schulhaus oder ein aufgegebenes Altenheim – doch der Eindruck täuscht.

Tritt man ein, merkt man rasch, dass das Gebäude lebt – und wie. Hier ist das Durchgangsheim Friedeck untergebracht. Bis zu achzig Asylsuchende aus der ganzen Welt leben hier auf engem Raum. Zum sonst so beschaulichen und ruhigen Dorf Buch ist das ein ziemlicher Kontrast.

Die Asylsuchenden bewohnen auf zwei Stockwerken Mehrbettzimmer, Frauen und Männer schlafen getrennt. Im Parterre befinden sich Küche, Essraum und der Aufenthaltsraum. Die Einrichtung ist einfach und funktional. Vieles stammt aus dem Brockenhaus oder von Spendern. Man fühlt sich an ein Lagerhaus erinnert – doch hier befindet sich der Lebensmittelpunkt von Dutzenden von Menschen.

Für die Bewohner ist das Personalbüro Anlaufstelle Nummer eins. Sieben Angestellte teilen sich Tages-, Abend- und Nachtdienste – jemand ist immer im Haus. Rita Donatz ist eine davon. Sie macht den Job seit zwanzig Jahren mit Leidenschaft. Wenn die arbeitet, ist sie Chefin und zugleich «Mutter» im Haus. Sie kennt «ihre» Bewohner und die Schicksale, auch wenn die Leute kommen und gehen. Das Durchgangsheim, erklärt sie, funktioniert eigentlich als eine Art WG. Die Bewohner helfen überall mit. Sie kochen, putzen, und erledigen allerlei kleine Arbeiten. Für manche «Ämtli» gibt es sogar ein bisschen Geld. Es ist eher ein Sackgeld, denn richtig arbeiten dürfen die Asylbesucher nicht. Im Sommer helfen sie manchmal den Bauern aus Buch bei der Ernte, und selten gibt es Aushilfsjobs in Gastrobetrieben rund um Stein am Rhein.

Erledigte Arbeiten im Haus werden von Rita auf einer persönlichen «Arbeitskarte» vermerkt. Ist diese voll, gibt es zwanzig Franken. Während dem Gespräch mit der langjährigen Betreuerin kommen immer mal wieder Bewohner vorbei. Ein junger Afrikaner fragt nach Essen, jemand anderes nach Zigaretten, und ein Dritter hat gerade seine Arbeit erledigt bekommt von Rita Donatz sogleich einen Vermerk auf seiner Karte. Wieviel die Asylsuchenden arbeiten, ist ihnen selbst überlassen. Manche machen das Minimum, andere streichen sogar ihr Zimmer neu.

Meistens ist das Haus sehr gut besetzt. Wenn einmal ein ganzes Zimmer frei ist, wird das für dringende Reparaturarbeiten genutzt. Die Asylsuchenden müssen nicht unbedingt im Haus wohnen, manche halten sich bei Bekannten und Verwandten in der Stadt auf. Wichtig ist nur, dass sie sich regelmässig telefonisch melden – auch weil jederzeit Post vom Migrationsamt eintreffen könnte.

Für diejenigen, die ständig in Buch wohnen, gibt es nicht allzu viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Im Sommer brachte bis im letzten Jahr wenigstens die «Badi» gleich neben dem Haus ein bisschen Abwechslung. Aber dieses Jahr wird sie wohl nicht öffnen, der Gemeinde ist der Betrieb zu teuer geworden. «Wir sind am abklären, ob wir die «Badi» nun selbst betreuen können. Das wäre schön. Aber es stellt sich die Frage der Verantwortung», erzählt Donatz. Einen Bademeister anzustellen, liegt für das Durchgangsheim natürlich nicht drin.

Die Asylbewerber würden lieber in der Stadt sein, Rita Donatz versteht das. «Buch ist den meisten zu abgelegen, aber die Familien mit Kindern sind gerne hier auf dem Land. Für sie ist es schön», erzählt sie. Das Durchgangsheims organisiert zweimal wöchentlich Shuttlebusse nach Schaffhausen, ansonsten sind die Bewohner auf sich alleine gestellt, wenn sie weg wollen.

Mit den Asylverfahren hat Buch nichts zu tun, die Entscheide werden alle in Bern gefällt. Rita Donatz ist froh darüber. Zu nah ist sie in die einzelnen Schicksale involviert. Ein Asylverfahren kann lJahre gehen, vier Jahre ist der Durchschnitt, wie Bundesrätin Sommaruga kürzlich bekannt gab. Eine Frist, die vor allem von linken Politikern heftig kritisiert wird.

Den jetzigen Bewohnern wird das wenig nützten. Die meisten von ihnen werden einen negativen Entscheid bekommen. Einige gehen dann freiwillig, aber viele weigern sich auch. Sie sind nicht bereit, den Traum von einem besseren Leben aufzugeben, für den sie ihre Heimat und ihr Umfeld verlassen haben. Manche von ihnen bleiben einfach in Buch – bis eines Tages die Polizei vor der Türe steht und sie mitnimmt. Andere tauchen unter. Nach einer gewissen Zeit werden sie abgemeldet – zumindest auf dem Papier, existieren sie dann für die Schweiz nicht mehr.