Kein Einwanderparadies

Andi Kunz über das Wanderparadies Schweiz, das als «Pull-Country» schon immer ein Einwanderungsland war.

Das Wandern ist des Schweizers Lust. Es gibt wohl kein anderes Land auf diesem Planeten, dessen BewohnerInnen eine solch ausgeprägte Leidenschaft für das Wandern entwickelt haben, wie die SchweizerInnen. Insgesamt über 60’000 Kilometer einheitlich signalisierte Wanderwege erschliessen die Eidgenossenschaft: «Grenzenlos Wandern». Mit diesem Versprechen werben zahlreiche Tourismusgebiete für ihre Region.

Natürlich ist der Werbeslogan nicht wortwörtlich gemeint. Denn wenn es um die Wanderbewegungen von Menschen geht, die Staatsgrenzen überschreiten und hier Schutz vor Verfolgung, finanzieller Not und Vertreibung suchen, ist es mit der Begeisterung für die sonst so geliebte Mobilität schnell geschehen. Wanderparadies ja, aber Einwanderparadies? Auf keinen Fall!

Beim Stichwort Zuwanderung wollen viele Schweizerinnen und Schweizer nur die Vorsilbe hören: Zu! Dabei ist es noch nicht so lange her, als Heerscharen von bettelarmen Schweizerinnen und Schweizern ihre Heimat verliessen, in der Hoffnung, anderswo ein besseres Leben zu beginnen. An diese «Wirtschaftsflüchtlinge» will sich heute niemand erinnern. Einen Vergleich zu den aktuellen Migrationsbewegungen halten viele für abwegig. Doch was ist heute wirklich anders? Nach Schätzungen internationaler Organisationen leben mehr als 190 Millionen Menschen befristet oder dauerhaft ausserhalb ihres Heimatlandes. Jährlich kommen rund 12 Millionen dazu, die ihre Heimat aus ganz unterschiedlichen Gründen verlassen müssen.

Migration ist kein neues Phänomen; sie ist vielmehr eine Konstante in der Menschheitsgeschichte. Geändert haben im Verlaufe der Zeit hingegen die Richtungen der Migrationsströme. Heute sind es die reichen Industriestaaten des Westens, welche aufgrund ihres relativen Wohlstandes besonders auf Menschen aus Ländern des Südens und des Ostens eine grosse Anziehungskraft ausstrahlen. Zu diesen «Pull-Countrys» gehört auch die Schweiz. Im Jahr 2010 wanderten gemäss Statistik des Bundesamtes für Migration (BfM) rund 134’000 Personen in die Schweiz ein. Die ständige ausländische Wohnbevölkerung ist im gleichen Zeitraum um 40’196 Personen gestiegen. Die Schweiz ist ein Einwanderungsland, ob uns das passt oder nicht. Doch ist sie auch das Paradies, als das sie im Ausland gern angepriesen und gelegentlich auch wahrgenommen wird?

Die Lappi-Redaktion hat sich für die vorliegende Ausgabe die Frage gestellt, wie es sich anfühlt, als AusländerIn in der Schweiz zu leben. Wir machen uns auf Spurensuche im Durchgangszentrum Friedeck am äus­sersten Zipfel unserer Kantonsgrenze und fragen, wie Asylsuchende ihren Alltag erleben. Der Artikel auf Seite 20 gibt Einblick in einen sonst von der Öffentlichkeit wenig beachteten Ort, an dem Flüchtlinge während mehreren Monaten in Ungewissheit ausharren, ständig in Erwartung eines Entscheids «von Bern», ob die Schweiz sie aufnimmt – oder in ihr Heimatland abschiebt.

In einem Interview befragen wir eine Brasilianerin, welche seit Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz lebt. Wir wollten von ihr unter anderem wissen, wie sie ihr Leben organisiert und mit der ständigen Angst umgeht, von den Behörden entdeckt und ausgeschafft zu werden. In einem weiteren Artikel beschäftigen wir uns mit der Frage, wo und wie AusländerInnen in der Schweiz am politischen Leben mitwirken können, und wo sie davon ausgeschlossen sind. Doch unsere Fragen beschränken sich nicht nur auf Personen aus dem Asylbereich. So tauchte ein Redaktionsmitglied in die spannende Welt der Schrebergärten ein, über denen die Landesflaggen derjenigen wehen, welche in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als «Gastarbeiter» in die Schweiz immigriert sind.

Wagen Sie den Blick auf die aktuelle Ausgabe und in eine Welt, die uns täglich umgibt, aber oft so weit von unserer Realität entfernt liegt.