«Kern des Kapitalismus»

Auslese

Zeise – Gründungsmitglied und Kolumnist der Financial Times Deutschland – betrachtet den Finanzmarkt aus marxistischer Perspektive: Kapital ist sich vermehrendes Eigentum. Damit Eigentum sich selbst vermehren kann, muss es ein gesellschaftlich anerkanntes Zahlungsmittel geben. Damit ist Geld als Kern des Kapitalismus identifiziert. Für Marx war Geld eine Ware, die ihren Tauschwert durch Arbeit erhält, beispielsweise Gold, das in Minen abgebaut wird.

Papiergeld und Geldanlagen waren für ihn kein Geld, sondern fiktives Kapital. Heute sind Schuldscheine zum offiziellen Zahlungsmittel geworden. Vom einfachen Bankguthaben bis zum komplexen Finanzprodukt sind alle Geldvermögen Kredite und erheben Anspruch auf einen Anteil am Profit. Kreditgeld ist dem Wachstumsbedürfnis des Kapitals angepasst. Im Gegensatz zur Goldproduktion kann die Kreditmenge beliebig ausgeweitet werden. Mit der wachsenden Kreditmenge steigt der Anteil des gesellschaftlich geschaffenen Mehrwerts, der an das Geldkapital abfliesst und der Anteil, der für den Konsum übrig bleibt, schrumpft. Es kommt zur Wirtschaftskrise.

Die Lobbymacht des Finanzsektors schuf die politischen Rahmenbedingungen, unter denen anhaltend hohe Profite möglich sind. Die Notenbanken haben mit billigem Geld dafür gesorgt, dass nach dem Platzen einer Spekulationsblase schnell auf die nächste umgeschwenkt werden konnte. Der Staat schützte mit Bankenrettungen die Kapitaleinkommen. Wenn sich aber ankündigte, dass Lohnsteigerungen gefordert werden, haben die Zentralbanken regelmässig die Zinsen erhöht, womit sie die Wirtschaft unter Druck setzten und Lohnsenkungen erreichten.

Als die Lohneinkommen derart hinter die Kapitaleinkommen zurückfielen, dass sie als Nachfragemotor auszufallen drohten, wurden die Konsumenten und ihre Hypothekar- und Privatkredite selbst zum Zentrum einer Blase. Nach deren Platzen finden sich nun die Staaten in der Situation, entweder selbst Nachfrage generieren zu müssen, oder die private Nachfrage zu stützen.

«Die Zyniker haben sich als Realisten erwiesen.» Zeises Schilderung der Eurokrise ist auch ein Jahr später noch aktuell. Was die Lösung der Krise verhindert, erfasst ­Zeise in der trivial erscheinenden Aussage «Will man den Finanzsektor bändigen, darf man sich nicht scheuen, ihm weh zu tun». Die Kreditmenge muss reduziert werden, was nicht ohne Konkurse – im Falle von Staaten Schuldenschnitte – möglich ist. Die Fähigkeit des Finanzsektors, die Kreditmenge beliebig auszudehnen, muss beschnitten werden. Die Einkommensverteilung muss wieder gleicher werden. Das beste Anzeichen für den Erfolg dieser drei Forderungen sieht Zeise in der Ratlosigkeit der Organisatoren des bisherigen Systems.