Eine religiöse Rampensau

Ein Spaziergang in die Schaffhauser Vergangenheit von Abdel Azziz Qaasim Illi, Pressesprecher des Islamischen Zentralrates der Schweiz.

Abdel Azziz Qaasim Illi gibt immer alles. Er besass mit vierzehn ein Elektrogeschäft, das nicht nur mit Elektrogegenständen handelte. Er organisierte mit sechzehn eine Technoparty, deren Kollateralschaden eine halbe Million Franken betrug. Er war Auns-Mitglied, verbrannte Amerika-Fahnen, er gründete die Pro-PLO-Schweiz, die öfters wegen Rassendiskriminierung verklagt wurde, und heute sitzt er im Vorstand des Islamischen Zentralrates der Schweiz.

Der 29-Jährige steht hinter einem Stehaschenbecher und einer Buschgarnitur auf dem Perron eins und blickt den vorbeieilenden Fussgängern zu, den Rücken zur Wand der Ticketeria. Er ist für keinen prophetischen Zweck angereist. Nur sein Bart schafft eine Verbindung zur Blick-Schlagzeile «Wie extrem sind Schweizer Islamisten?». Mit dem schwarzen Sakko und dem weissen Hemd fällt er am Bahnhof Schaffhausen nicht auf.

Bushof

Wir gehen zum angrenzenden Bushof, von wo aus Patric Illi als Elfjähriger jeweils im grauen ASS-Bus nach dem Judotraining in der Stadt zu seinen Pflegeeltern nach Schleitheim fuhr. Wir stehen abseits, die Bleiche ist heute eine Baustelle. In Schleitheim, der Randen-Gemeinde mit 1650 Einwohnern, mit dem Auto eine halbe Stunde von Schaffhausen entfernt, fand er Zugang zur Religion und wurde gläubig. Puritanisch christlich. Illi wollte 1993 die Sekundarschule in der Schweiz beenden, seine Eltern wollten auf den Philippinen eine Bar eröffnen. Sie gingen, er blieb und kam zu einer Pflegefamilie.

Erst war er mit seiner Familie in der Chrischona, dann in der freikirchlichen Sitos-Gemeinde. «Dort wurde ein religiöser Imperativ aufgebaut: Wenn ihr es jetzt nicht glaubt, dann ist die Hölle nahe», sagt er. Er spricht immer deutlich, betont jedes Wort, als würden hinter mir noch fünf weitere Journalisten stehen. «Gezwungen fühlte ich mich deswegen aber nicht. Im Gegenteil, für mich hat es gestimmt und ich habe das Religiöse adaptiert und mich darin wohlgefühlt.»

Doch eines sahen die Pflegeeltern nicht gerne: Illi schraubte mit einem Schulkollegen in einer ausgedienten Waschküche an Elektrogeräten herum, reparierte sie gegen Geld, bastelte eine automatisierte Sprinkleranlage für Pflanzen, hantierte unter Anleitung seines Grossvaters, eines Chemikers, mit Schwarzpulver. Nach zwei Jahren in Schleitheim brach er die Sekundarschule ab und reiste seiner Familie nach. Seinen gläubigen Geschwistern schrieb er noch eine Zeit lang. «Die kamen dann auch in die pubertäre Phase und hatten nolens volens eine Freundin.»

Jugendkeller

Der Bahnhof liegt hinter uns und wir durchqueren die Vordergasse, dann den Platz und machen vor dem braunen Tor eines Altstadthauses halt. Es gehört der Stadt Schaffhausen und am Abend wird Reggaeton, HipHop und Dancehall den Partyraum im Untergeschoss füllen. Mit der «Last School»-Party startete Illi im kleinen Gewölbekeller, dem heutigen «Chäller», seine Karriere als Party-Organisator.

Das Jahr auf den Philippinen, die Aushilfsarbeiten in der Bar der Eltern und als Touristenführer, und die Disco auf einem nahen Basketballfeld, deren Bass jeweils am Samstag an seinen Schlafzimmerscheiben rüttelte, hatten in ihm neue Interessen geweckt. Maschinell, klar organisiert, normativ, geregelt. Das ist für Illi Techno. «In dieser Zeit war das sicher das richtige, das zu meiner Genese beigetragen hat.» Vergessen hat er seine Parties nicht, er redet sich in Begeisterung über den Mikrokosmos der Konzerte: «Ein Event muss eine Regierung haben. In einem Ministaat eine Nacht lang Miniherrscher zu sein, das hat mich fasziniert.»

Illi begann seine Informatikerlehre und seine Parties wurden grösser, die DJs zahlreicher. Bis zur «Troja II»-Party mit 55 DJs, von Fernsehen und Zeitungen aus der ganzen Schweiz gross angekündigt. Illi erwartete 6’000 Besucher, es kam nur die Hälfte, die Plattendreher und das Personal kriegten Wind von der nahenden Pleite, drehten den Strom ab und nahmen mit, was noch da war. Der Schaden belief sich auf eine halbe Million Franken, Illi war minderjährig, fein raus und das zweite Mal in der Presse. Illi verabschiedete sich von der Techno-Szene und wurde Auns-Mitglied.

Lindli

Die Hitze staut sich in den Gassen der Schaffhauser Altstadt, Illi schwitzt nicht in seinem Sakko. Auch als wir in die Vordergasse einbiegen. Er ist nicht mehr oft in Schaffhausen, hat nur noch zu einer handvoll Leute Kontakt. Viele haben mit ihm abgeschlossen, wollen öffentlich nichts mit ihm zu tun haben. Zum Beispiel, seit bekannt wurde, dass er Auns-Mitglied geworden war. Passiv-Mitglied wie er betont, er räumt aber ein: «Das Konzept der Auns habe ich unterstützt, sonst wäre ich nicht Mitglied geworden.» Politisch interessiert sei er wegen der Familie. Sie schauten zusammen die «Arena», dort war Illi im Gegensatz zum Club bis heute noch nicht als Gast eingeladen. Seine Mutter sass für die FDP im Parlament, sein Bruder ist im Vorstand der Jungfreisinnigen Schweiz. Sein einziger Versuch, in einer Partei aktiv zu werden, war die Auns-Migliedschaft.

2003 marschierte er noch in einer Juso-Demonstrantion mit den Schaffhauser Jugendlichen die Vordergasse hinunter zum Lindli, dem schmalen Grasstreifen am Rhein. Das war kurz vor dem Irak-Krieg, Illis Interesse für Palästina und die arabische Welt war bereits geweckt. Die Demonstranten setzten sich auf die Strasse, Illi stand einige Meter entfernt auf einer Mauer und verbrannte eine Amerika-Fahne.

Heute schlendern uns in der Vordergasse nicht mehr ganz frisch verliebte Pärchen, asiatische Reisegruppen und Familien mit Kinderwagen entgegen. Wenn Illi einen Ort in seiner Heimatstadt Schaffhausen nicht leiden kann, dann ist es das Lindli, wo tagsüber die Touristen und Erwachsenen flanieren und abends die Schaffhauser Jugend ausspannt. «Es gibt im Leben eine gewisse Frist, in der man etwas erreichen kann», sagt er. «Das Lindli ist der Inbegriff von Nichtstun, das ist nicht mein Lebensstil.» Illi erinnert sich an die Gelateria, wir kaufen ein Eis und kehren auf halbem Weg zum Rhein um.

Polizeistation

Wir verlassen den Touristenstrom der Vordergasse, durchqueren den Mosergarten, dann den Klosterbogen. Unter den Kastanienbäumen neben der Mauer zum angrenzenden Gerichtsgebäude und der Zentrale der Schaffhauser Kantonspolizei ist auf einer der wenigen Parkbänke noch ein freier Schattenplatz. «Ich bin oft angeeckt», sagt er. Weniger mit seiner Mitgliedschaft bei der Auns als mit der Pro-PLO Schweiz, die er daraufhin gründete.

Aufmerksamkeit erhielt er, als er sich auf der Homepage über «zerstückelte Zionisten» freute. «Ich musste eine Artikulationsweise finden, mit der ich gehört werde, und die eine Zeitung aufschnappt», sagt er. «Wenn man die Medien avisieren kann, wird man in der Öffentlichkeit wahrgenommen und Öffentlichkeit zu erreichen ist eine Funktion der Demokratie.» Er handelte sich mehrere Anzeigen wegen Rassendiskriminierung ein. Einmal wurde er gebüsst.

Illi reiste mehrmals nach Palästina, traf Hamas-Begründer Scheich Jassin und dessen Stellvertreter Abdel Aziz Rantisi. «Erst ein paar Tage später, als ich wieder Internet-Zugriff hatte, wurde mir klar, wen ich getroffen hatte», sagt er. Er weiss aber noch, dass sie sich über «moralische Zerfallserscheinungen», «technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt», «Korruption im arabischen Raum» und «Wertekonservatismus» unterhalten haben. «Vielleicht ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass diese zwei Treffen der zündende Funke für meine spätere Konversion zum Islam waren.» Er ist beeindruckt von den beiden, hat aber nicht alle ihre Ratschläge befolgt. Ein Bild von ihm und Scheich Jassin hatte in den Boulevardzeitungen für Aufreg gesorgt. «Er schmunzelte und meinte damals, ich solle das Bild mit ihm lieber nicht veröffentlichen, sonst würde ich auf den Radar des Staatsschutzes gelangen.»

Qaasim Illi konvertierte und liess sich einen Bart wachsen, der blonde Pilzschopf ist geblieben. Die Schaffhauser Polizei durchsuchte seine Wohnung, fand Schwarzpulver und Zünder, und die Bundesanwaltschaft schaltete sich ein. «Ich hatte schon in Schleitheim Fern- und Zeitzünder gebastelt», sagt er. Das Verfahren wurde eingestellt.

Sein Engagement für Palästina beendete er so schnell, wie er es begonnen hatte. «Es war aktuell und in den Medien. Von Kaschmir, Tschetschenien oder von Tibet sprach niemand», sagt er. «Ich hatte die Illusion, eine Lawine ins Rollen zu bringen. Dann liess der Konflikt nach und es lohnte sich nicht mehr.» Dem Islam blieb er treu.

Bahnhof

Illi hat sein Eis gegessen, er gestikuliert wenig, braucht selten eine ganze Sekunde Bedenkzeit. Er hatte mehrere Freundinnen, hat jetzt vier Kinder und ist verheiratet. Er studiert Islamwissenschaften in Bern, lebt zeitweise auch in Ägypten. Sein Handy klingelt. «Was? Das glaube ich nicht», ruft er in den Hörer, genug laut, damit es die fünf imaginären Journalisten verstehen. «Ohlala, im Bundeshaus. Versuch, mehr herauszubekommen. Klar, ich werde das delegieren.»

Von der Minarettinitiative und der Aufmerksamkeit der Medien, die die SVP erhielt, angestachelt, ergriff Illi wieder die Initiative: Public Relations & Information steht auf seiner Visitenkarte des Islamischen Zentralrates der Schweiz. Er ist seit der Gründung dabei, diskutiert im Fernsehen, nimmt in Zeitungen Stellung. «Ich habe kein Problem, in der Öffentlichkeit zu stehen.»

Wir sind mit dem Strom der Vordergasse zurück zum Bahnhof gelangt und sitzen in der Sportlerbar Gleis 6. Illi trinkt Pfefferminztee und hat das Sakko beiseite gelegt. «Die organisierten Töne haben mir schon gefehlt, aber dann habe ich eben moralisch akzeptierte Musik gehört», sagt er, und «Rehpfeffer, den vermisse ich. Das ist deswegen ein Problem, weil er im Blut gekocht wird.» Lieber fünf fixe Gebete am Tag, als mit Gott eins sein, wann man will.

«Ein Individuum kann ausserhalb einer Gemeinschaft keine Religion praktizieren», sagt er über das Jahr auf den Philippinen und «es gibt ja viele Gemeinsamkeiten von Christentum und Islam» über seine Zeit in Schleitheim. Vielleicht sei es das Nichtnormative in der Gesellschaft, das ihn dazu getrieben habe, das Normative zu suchen. «Dass man heute leben kann, wie man will, damit habe nicht nur ich Mühe.»

Heute unterbricht er die Arbeit, wenn er beten muss, und wenn er fastet, dann verzichtet er bei einer Einladung. «Das ist für mich das Wesentliche am Islam, dass er Praktikabilität erzwingt. Das hat nicht nur eine religiöse, sondern auch eine soziale Komponente und stiftet Gemeinschaft.» Es ist sein Mikrokosmos der Religion.

Illi nimmt das Telefon und ruft seine Mutter an. Er besucht sie noch, bevor er nach Bern zurückkehrt.