Muskelkraft ist der beste Motor

«Stachler» sind ein kurliges Völklein. Mit blosser Muskelkraft und einem mehrere Meter langen «Stachel» kämpfen sie immer wieder gegen die Strömung des Rheins. Dabei ginge es mit Motor viel einfacher. Doch das kommt überhaupt nicht in Frage.

Ein warmer Sommertag. Es ist leicht bewölkt, schwül und es liegt Spannung in der Luft. Zwei hölzerne Schiffe, bemannt und bewaffnet mit Wasserballons, Holzschwertern und Wasserpistolen bringen sich in einer kleinen Bucht oberhalb von Büsingen in Stellung. Vom Ufer ertönt ein «Kamera läuft» und «Action» – die Schlacht kann beginnen. Junge Stimmen blasen zum Gefecht, verkleidete Mini-Piraten grölen und jauchzen, die Wasserballone fliegen, treffen, zerplatzen. Diese Szene war der Höhepunkt eines kleinen Filmprojekts eines Schaffhauser Vaters und seines Sohnes, verwirklicht irgendwann in den 90er-Jahren. Dass der Rhein und die hölzernen, länglichen Boote – Weidlinge genannt – dabei eine zentrale Rolle gespielt haben, liegt nahe.

Wenn man in Schaffhausen aufwächst, gehören der Fluss und die Weidlinge dazu. Man wird schnell zur Wasserratte. Der Rhein, er ist hier sauber, hat fast Trinkwasserqualität. Die Ufer sind grün, oft bewaldet – die Natur begeistert. Gemächlich fliesst das Wasser Richtung Basel und lädt am Ufer an unzähligen Orten zum Baden und Grillieren ein. Für die Kinder ist das vor allem ein Riesenspass, für die Älteren gewünschte Abwechslung vom stressigen Alltag. Abschalten, erfrischen, modern ausgedrückt: Entschleunigen. Der Fluss käme wohl ohne Schaffhausen ganz gut aus, aber Schaffhausen ohne Rhein – unvorstellbar.

An heissen Wochenenden und Ferientagen wird unser Naherholungsgebiet geradezu überschwemmt von Freizeitkapitänen auf Luftmatratzen und Gummiboten, Touristen und Sonnenanbeter bevölkern Passagierschiffe und Liegewiesen. An solchen Tagen gehen die Weidlinge, die für viele Ansässige die einzig wahren Rheinschiffe sind und die für eine besondere Tradition stehen, im Trubel fast etwas unter. Sie sind in ihrer Anzahl beschränkt und deswegen auch ein bisschen exklusiv. Die hölzernen, länglichen Boote messen etwa neun Meter und sind rund 300 Kilogramm schwer. Werden sie nicht gerade gebraucht, hängen sie von Lindli bis Büsingen dicht gereiht an Pfählen. Für viele ist der Weidling ein Privileg, das für manche vielleicht auch ein bisschen mit Prestige zu tun hat und auf jeden Fall mit Lifestyle. «Echte» WeidlingfahrerInnen fahren motorlos. Mit langen Stacheln stösst man sich in regelmässigen Zügen flussaufwärts, mit einem Ruder manövriert man über den Fluss, weicht den Schifffahrtszeichen (Wiffen) und grösseren Schiffen aus und peilt die nächste Anlegestelle an.

Geht man als Unkundiger offen auf Weidlingsfahrer zu, wird man sicher schnell zum Mitfahren eingeladen. WeidlingsfahrerInnen demonstrieren schliesslich auch gerne, was sie können und haben Freude, wenn Leute Interesse und Begeisterung zeigen. Ein bisschen Hartnäckigkeit gegenüber den Alteingesessenen «Stachler» lohnt sich wirklich, denn selbst einen Weidling anzuschaffen, kostet schnell mehr als 10’000 Franken. Das weitaus grössere Hindernis ist jedoch, dass es keine freien Pfosten gibt. Auf einen offiziellen Weidlingspfosten bei Schaffhausen, an dem man sein Boot anbinden kann, wartet man jahrzehntelang.

Zum Sport gemacht haben das Stacheln einst die Pontoniere – vielerorts in der Schweiz und auch in Deutschland gibt es in diesen ursprünglich militärischen Vereinen Ruder- und Stachelwettkämpfe, aber so populär und lebendig wie in Schaffhausen ist die Weidlingskultur wohl nirgends. Hier hat sie nichts Militärisches, im Gegenteil: Es geht um Gemütlichkeit, um die Natur, um die Zeit, die man gemeinsam verbringt. Wer mehr über diese Tradition erfahren möchte, spricht am besten mit einem der älteren Weidlingskapitäne – zum Beispiel mit Hans Bendel.

Bendel ist seit sechzig, wenn nicht siebzig Jahren auf diese Art und Weise auf dem Rhein unterwegs. Sein Weg zum Fluss war kurz, ist er doch im Gebäude der heutigen Sommerlust aufgewachsen: «Gepackt hat mich das Weidlingsfahren in der Pfadi; wir hatten zwei Boote und ich hatte die Aufsicht darüber», erzählt er. Das Handwerk, Rudern und Stacheln, lernten er und seine Freunde von den Pontonieren. Weidlingsfahren, für Bendel war das Sport, Abschalten und Ausgang zugleich. «Wir stachelten zum Paradies oder bis nach Diessenhofen, gingen dort trinken und liessen uns wieder heruntertreiben. Eigentlich gehörte und gehört der Weidling sowieso zu meinem Alltag», sagt er. «Dafür war ich auch berüchtigt. Es hiess oft: ‹Du hoksch jo immer ufem Rhy›». Bendel, heute pensioniert, war selbstständig und konnte sich seine Zeit selbst einteilen. Er ist bei weitem kein Sonderfall: Viele Weidlingsfahrer sind stark mit ihrem Hobby verbunden. Man stachelt bereits in der Jugend, rudert vielleicht seine erste Liebe über den Rhein zum Picknick, gibt seinen Kindern die Technik weiter und trifft sich im Pensionsalter noch im Schaaren gegenüber von Büsingen zum Boule spielen, Schwimmen oder einfach «e chli si».