Zwischen Kampf, Küche und Studium

Auslese

Wer «Die Rote Köchin» liest, bekommt unweigerlich Lust, zu kochen – und die Gesellschaftsordnung umzustürzen. Das Buch bringt die Ideen, den Kampfeswillen, die Hoffnung, aber auch die Verzweiflung einer Generation von Revolutionären und Studentinnen direkt in die Lesestuben der Gegenwart. Ein anonymer Autor vermittelt die spektakulären Aufzeichnungen von Hannah R.

Deutschland nach dem ersten Weltkrieg: Hunger und Inflation beherrschen das Land. Die Weimarer Verfassung hat der Novemberrevolution ein Ende gesetzt, der Spartakusaufstand wurde mit Hilfe der SPD gewaltsam niedergeschlagen, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind tot. Ihre KampfesgenossInnen versuchen, die Revolution im Untergrund weiterzuführen, in verschiedenen Städten entstehen bewaffnete Zellen.

Am gerade gegründeten Bauhaus in Weimar besucht eine Gruppe junger Menschen den Kunstunterricht von Paul Klee, Walter Gropius und Wassily Kadinsky. Sie diskutieren mit den Meistern über Kunst und Ästhetik, aber auch über Politik und die missliche Lage, in der sich die junge Republik befindet. Eine der Studentinnen ist Hannah R. Neben dem Studium kocht sie in der Bauhauskantine und teilt mit ihrer «fliegenden Volksküche» Suppe an die Armen aus. Mit gutem Essen will sie die Ausgebeuteten für die Revolution gewinnen. Die wohltätige Küche finanziert sie mit einem kommerziellen Restaurant: «Die Herren zahlen für die Knechte mit», wie Hannah sagt. Ihr Freund und kämpferischer Genosse Hans ist überzeugt von dieser Strategie: «Lass die Proletarier dein Essen kennenlernen – sie nennen dich eh schon die Rote Köchin – und du wirst sehen, wie populär die Idee einer neuen sozialen Gerechtigkeit werden wird.»

Doch die StudentInnen sind längst überzeugt, dass ein gerechteres Deutschland nur im bewaffneten Kampf erreicht werden kann. Nachts stehlen sie Gewehre, befreien Gefangene und basteln Brandbomben, um die Archive der Polizei anzuzünden und die Verfolgung von Linken zu sabotieren. Was Hannah bei diesen Aktionen erlebt, ist so spannend, dass sie selbst notiert: «Immer, wenn ich diese ungeordneten Aufzeichnungen durchlese, habe ich das Gefühl, in einem Kriminalroman zu leben.»

Zwischen Kampf, Küche und Studium bleibt immer Zeit für revolutionstheoretische Gespräche. «Ich kann die Idee einer Revolution, die ihre Kinder frisst, nicht akzeptieren», bilanziert Hannah nach einer dieser Debatten. Und doch ist sie auch bei den gefährlichsten Aktionen dabei, etwa als die Zelle eine Polizeistation überfällt, um Waffen zu rauben.

Der Mut und Idealismus von Hannah und ihren FreundInnen ist ansteckend und beneidenswert. Dennoch mischen sich melancholische Töne bei. Das Bauhaus wird von der Bourgeoisie angefeindet und in seiner Existenz bedroht, das Scheitern der Weimarer Republik und der Erfolg der Nationalsozialisten zeichnen sich ab. Die Repression gegen Linke verstärkt sich, und die Mitglieder der Zelle wissen, dass sie irgendwann abtauchen müssen, wenn sie nicht von Freischärlern, Nazis oder Polizisten umgebracht werden wollen. Hannah wird immer klarer, dass ihr Traum, ihre Revolution, chancenlos ist. Als ein betrunkener Hans ihr sagt: «Wir kämpfen für eine Generation, die es nicht gibt», erschrickt sie, weil sie erkennt: «Das ist das Schicksal aller Revolten.»

Die Kapitel von «Die Rote Köchin» tragen Titel wie «Heringe nach Art der Kronstätter Matrosen» oder «Rinderlende mit Zwiebeln». Nach einer kurzen Episode aus dem Leben der jungen Revolutionäre folgt unmittelbar ein Rezept aus Hannahs Sammlung. Nicht selten sorgt diese Kombination für einen skurrilen Effekt: Einer Begegnung mit Rilke wird beispielsweise das äusserst prosaische Rezept «Blutsuppe mit Äpfeln» gegenübergestellt.

Unklar bleibt, ob die Geschichte von Hannah authentisch ist. Der Autor gibt an, die Aufzeichnungen von Hannahs Enkelin erhalten zu haben. Möglich, dass einiges erfunden, übertrieben oder zumindest mystifiziert ist. Doch das spielt letztlich keine Rolle: Die Geschichte der «Roten Köchin» vermittelt so detailliert die Lebenswelt ihrer Zeit, dass sie gewissermassen wahr ist, auch falls Hannah nie existiert hat.