Schüsse im Wald

Jeden Herbst blasen die Jäger zur Treibjagd. Eine Gelegenheit, den Hirschpfeffer in freier Wildbahn zu sehen.

Bilder: ya.

Ein junger Sikahirsch bricht wenige Meter vor mir aus dem Dickicht und flüchtet in langen, eleganten Sprüngen. «Sika nach rechts», rufe ich durch den Wald. Keine fünfzig Meter entfernt lauert der Jäger mit dem Zielfernrohr auf der Büchse, ein Schuss hallt durch den Wald und der Hirsch bricht zusammen. Einige Stunden früher versammelt sich die Jagdgesellschaft Osterfingen mit einigen Gästen und TreiberInnen bei einer Scheune zur ersten Treibjagd des Jahres.

Die Jäger freuen sich über das Wiedersehen und auf einen Jagdtag bei bestem Wetter. Im Stehen verpflegt man sich mit Kaffee und Zopf und wartet, bis alle eingetroffen sind. Die Jäger tragen grünbraun, die Kleidung der Treiber ist vor allem darauf ausgelegt, dass sie schmutzig werden darf. Dazu gibt es eine signalfarbene Weste, auch die Jäger tragen mindestens ein oranges Hutband. Man nimmt an, dass diese Farbe vom Wild nicht wahrgenommen wird, sie dient also gleichzeitig der Sicherheit und der Tarnung.

Sieben der etwa 20 Jäger stellen sich mit ihren Jagdhörnern in einer Reihe auf und blasen einen kurzen Begrüssungsmarsch. Danach legt Jagdleiter Hans Matzinger seine Trompe de Chasse, ein grosses, kreisrundes Instrument, vorsichtig zu Boden und begrüsst Jäger und TreiberInnen. Die Regeln für die heutige Jagd sind schnell erklärt: Gejagt werden Schwarzwild (Wildschweine), Sikawild, Rehwild, Fuchs und Dachs, nicht aber Hasen. Das Leittier ist jeweils zu schonen. Fuchs und Dachs dürfen mit Schrot geschossen werden, grössere Tiere nur mit Kugeln. «Die Sicherheit ist oberstes Gebot», betont Jagdleiter Matzinger. Er wünscht allen «viel Anblick und Weidmanns Heil», bevor er mit den anderen Hornbläsern erneut zu spielen beginnt: «Aufbruch zur Jagd».

«Hagahagahaga»

Einer der Jäger gibt mir seinen Hund mit, ein schwarz-weisses Spaniel-Weibchen namens Gwendy. Zusammen mit weiteren TreiberInnen werde ich zur Jagdhütte im Wald gefahren. Das Autoradio spielt die neue CD von «Palko Muski», die bei mir mehr Jagdlaune aufkommen lässt als die Klänge der Jagdhörner. Wenig später stehen alle Treiber auf einer Linie bereit und warten auf das Hornsignal zum Jagdbeginn. Als es ertönt, lasse ich Gwendy von der Leine und wir beginnen, den Wald zu durchkämmen. Wir bewegen uns lautstark durch den Wald, rufen «Hagahagahaga», «Hoh-heh» und «Hoioioi» oder klopfen mit Stecken gegen die Bäume. Ich stimme mit ein, nicht nur um das Wild aufzuscheuchen, sondern vor allem, damit mich die Jäger keinesfalls für ein Reh oder eine Wildsau halten.

Immer wieder ruft jemand «Sika nach vorn» oder «Reh nach rechts», ab und zu fällt krachend ein Schuss. Gwendy leistet ganze Arbeit. Immer wieder schnuppert sie laut bellend einer Fährte nach. Als vor mir eine Sika-Kuh aufspringt, wirft sich die kleine Hündin furchtlos auf die übermächtige Gegnerin, die verängstigt strauchelt und die Flucht ergreift.

«Sika nach vorn»

Nach mehreren Stunden des Kampfes gegen Dornen und Steilhänge wird die Jagd abgeblasen, und einer der Jäger nimmt mich mit dem Auto zurück zur Hütte. Er hat nichts geschossen und ist etwas frustriert. Ein schöner Sikahirsch sei zwar vorbeigekommen, doch der Jäger glaubt, ihn verfehlt zu haben. Zur Sicherheit wird er sich später mit einem «Schweisshund», der auf das Aufspüren und Verfolgen von Blutspuren abgerichtet ist, auf die Suche machen. Das ist mühsam und braucht Zeit, steht aber ganz vorne im Jägercodex: Ein angeschossenes Tier wird gesucht, bis man es findet. Selten könne es aber auch vorkommen, dass sich die Spur verliert und selbst die Hunde das Tier nicht mehr aufspüren können, erzählt man mir später.

Zurück bei der Jagdhütte treffen nach und nach die geländegängigen Autos der Jäger ein, viele davon transportieren im Kofferraum oder in einem angehängten Gitterkorb erlegtes Wild. Die Tiere werden an den Hinterläufen aufgehängt und ausgenommen, Frauen und Kinder der Jäger schauen dem blutigen Schauspiel interessiert zu. Insgesamt kommt eine beeindruckende Anzahl Tiere zusammen: Acht Sikahirsche, drei Rehe, zwei Wildschweine und ein Fuchs fanden den Tod. Die Jäger erzählen von ihren Abschüssen und gratulieren einander: «Weidmanns Heil!» – «Weidmanns Dank».

«Reh tot»

Zum Abschluss kommen nochmals die Hornbläser zum Zug. Sie blasen die Jagdsignale: «Hirsch tot», «Reh tot», «Sau tot» und «Fuchs tot», eine Art letzte Ehrung der Tiere. Eigentlich würde das erlegte Wild, die sogenannte «Strecke» für diese Zeremonie mit Tannenzweigen geschmückt auf Reisig ausgelegt, doch aufgrund der hohen Temperaturen geht die «Wildbrethygiene» vor: Die Tiere werden rasch abtransportiert und in einem Kühlhaus gelagert, wo sie einige Tage abhängen müssen. Das Fleisch gehört der Jagdgesellschaft, die Jäger und TreiberInnen, die ein Tier wollen, müssen es ihr abkaufen. Nur die Innereinen, vor allem die begehrte Leber, gehören dem Jäger, der das Tier erlegt hat.

Jagdleiter Hans Matzinger ist zufrieden mit seinen Jägern. Nicht nur Aufgrund der guten «Strecke», sondern vor allem, weil die Jäger gut geschossen haben. Die meisten Tiere wurden mit einem sauberen Blattschuss erlegt und waren schnell tot. Die Jäger wiederum sind mit den TreiberInnen zufrieden und schenken ihnen Wildschüblig, Wein und auf Wunsch sogar eine frische Sika-Leber. Jäger freuen sich, wenn sich NichtjägerInnen für ihr Tun interessieren. Vielleicht müsse man etwas mehr Öffentlichkeitsarbeit betreiben, um in der Bevölkerung Vorurteile abzubauen, meint einer. Nach der Abschlusszeremonie bleibt noch viel Zeit, um am Lagerfeuer bei Bier und Wein Geschichten über Anblick und Abschüsse auszutauschen und miteinander anzustossen – mit links, wie es das Weidmannsbrauchtum vorschreibt.

Die Jagdgesellschaft ist verantwortlich für ihr Revier: Die kantonale Jagdverwaltung erstellt einen Abschussplan mit einer Mindestzahl zu schiessender Rehe und Hirsche. Ausserdem muss die Jagdgesellschaft für Schäden aufkommen, die das Wild anrichtet.