Über die Kunst des Habens

Auslese

Harald Weinrich. Über das ­Haben. 33 Ansichten.

Maxime könnte Pate des luziden schmalen Bandes «Über das Haben» des bedeutenden Sprach- und Literaturwissenschaftlers Harald Weinrich sein. Der 1927 in Wismar geborene Linguist, Essayist und Schriftsteller erhielt mit 32 Jahren schon eine Professur für Romanistik an der Universität Kiel und wurde nach mehreren Lehraufträgen an verschiedensten Universitäten 1992 als Professor für Romanistik an das 1529 gegründete Collège de France berufen – in der Welt der akademischen Wissenschaften eine Sensation. Seit seiner Emeritierung publizierte er mit Vorliebe auch philosophisch grundierte Texte, zum Beispiel 2008 den viel beachteten Band «Knappe Zeit». Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens.

«Die Wörter sind wie Münzen. Sie besitzen einen eigenen Wert, ehe sie alle Arten von Werten ausdrücken.»

Antoine de Rivarols (1753–1801)

Sein neues Buch «Über das Haben. 33 Ansichten» lässt wohl unbewusst manch wachen Zeitgenossen aufhorchen, weil der Titel an die grassierende Habgier etwa an den grossen Börsen oder der global aktiven Bank­institute denken lässt. Aufmerken werden aber auch viele ehemals oder noch heute politisch links orientierten LeserInnen, die in den 70er-Jahren «Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft» (1976), das damals populäre Alterswerk des Psychoanalytikers Erich Fromm, gelesen und verinnerlicht haben.

Sein zutiefst kulturkritischer Essay vertrat die Auffassung, dass die beiden Existenzmodi Sein und Haben einen tiefen Graben innerhalb der westlichen Welt aufgetan haben: Der Modus des Habens, so Fromm, konzentriere sich dabei auf Gewinnsucht, Macht etc. und sei somit die Triebfeder des westlichen, letztlich destruktiven Wirtschaftsmotors; der Modus des Seins hingegen gründe auf Liebe und fördere schöpferische Tätigkeiten und Energien, wobei Erich Fromm in seiner Studie am Horizont die Utopie einer solch neuen Lebensauffassung aufdämmern sieht, weil er immer mehr, vor allem junge Leute, beobachten könne, die sich von der «having mode of existence» abwenden würden.

GEORG FREIVOGEL ist Buchhändler und betreibt das «Bücherfass» an der Webergasse. Seine Kundschaft schätzt ihn als Berater, der immer den passenden Lesetipp bereit hält.

Mit leichter Hand und mit weitem, gelehrten Horizont unternimmt Harald Weinrich in seinem neuen Werk eine Rehabilitation des arg gebeutelten Verbes. Er geht dabei auf Aristoteles‘ Kategorienlehre zurück, in welcher der Grieche die zentralen Begriffe (Kategorien) nennt, die «alles Nachdenken über die Welt vorsteuern» (Weinrich). Natürlich spielt auch da das Sein (die Substanz) eine prominente Rolle und die Literatur von den Metaphysikern bis Heidegger, der der Forschung über das Sein und das Seiende den Begriff Ontologie zuordnete, füllt dazu Bibliotheken.

Das Haben, als achte Kategorie, spielte dabei schon immer eine untergeordnete Rolle. Der Autor schildert in fünf grossen Abschnitten mit insgesamt 33 kurzen Ansichten («denn auch das Leben ist kurz») den Rahmen bzw. das weite Feld, wo die Kunst des Habens und das Nachdenken darüber bis in den Alltag oder die aktuelle Politik hineinwirken. Sei es nun in einem Kapitel über Erich Fromm, den er milde kritisiert; sei es in einer subtilen Bildbeschreibung von Vermeers «Die Goldwägerin», wo er evident zeigt, dass das Bild nebst einer künstlerischen auch eine inhaltliche Sprache hat; sei es in der Skizze zu Daniel Defoe und seinem Robinson Crusoe, wo das buchhalterische Soll und Haben untersucht wird, oder sei es die Reflexionen über die Erklärung der Menschenrechte, wo es im zweiten Artikel schon heisst: «Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person» – stets öffnet Harald Weinrich dem Haben ein weiteres Fenster, und er lässt uns in der wunderbaren 16. Ansicht, Kohelet und Hans Blumenberg, bewusst werden, dass die Menschen die Zeit nie haben werden, um sich über die Vollständigkeit der Sterne (Hans Blumenberg) sicher zu sein.

Wenn Harald Weinrichs kleines grosses Buch über das Haben auch keinen unmittelbaren Einfluss auf unser Leben hat – es erfreut mit seiner universalen, jedoch nie aufdringlichen Gelehrtheit und seiner klaren und gleichwohl eleganten Sprache den Leser oder die Leserin. Was eigentlich wünscht man sich von einem Buch mehr?

Ein Gastbeitrag von Georg Freivogel