Das Unhängsel

Während weibliche ­Nacktheit in der Kunst selbstverständlich ist, ist der nackte Mann anrüchig. Ein Plädoyer für den Penis.

Einen klaren Verstand, das Recht, am politischen Leben teilzuhaben, sich prügeln zu können… Vieles hat man im Laufe der Jahrhunderte den Frauen schon abgesprochen, aber wohl nie ihre Schönheit, die jeder innezuwohnen scheint. Ein Gerücht, das sich hartnäckig hält, besagt, dass die Frau nun mal das schönere Geschlecht sei.

Der alltägliche Schönheitswahn, dem viele Frauen nach wie vor stärker unterworfen sind als Männer, widerspiegelt dies. Ebenfalls die bildende Kunst scheint in der Frau, besonders in der nackten, die Quelle aller Ästhetik zu sehen.

Von der Autorin zensiert: LA VÉNUS ENDORMIE von Paul Delvaux, 1932.

Oder wie sonst lässt es sich erklären, dass Brüste und Venushügel in westlichen Malereien vom Mittelalter bis heute ebenso selbstverständliche Sujets sind wie Blumenvasen, nicht aber ihre männlichen Gegenstücke, die Penisse?

Männliche Akte in Schaffhausen

«Das Fehlen männlicher Akte in der Malerei könnte einerseits daher rühren, dass Malerinnen lange Zeit eine künstlerische Ausbildung und der damit verbundene Aktsaal verwehrt war, und andererseits daher, dass die Maler und später auch die Malerinnen vielfach das Sujet Frau bevorzugten», sagt Nadja Kirschgarten.

Von der Autorin zensiert: MÄDCHENAKT von Frantisek Drtikol, 1928.

Die Schaffhauser Künstlerin hat sich intensiv mit dem Thema des männlichen Akts auseinandergesetzt. Einerseits erforschte sie in einer ihrer Semesterarbeiten das Fehlen weiblicher Beiträge zum Thema «Mann» in der Malerei, andererseits hat sie selbst männliche Akte gemalt. Im Rahmen der Ausstellung «Drei Generationen» im Forum Vebikus stellte Kirschgarten vergangenen Dezember eine Bilderserie mit dem provokant unschuldigen Namen «Wunderbare Natur» aus. Darunter fanden sich nebst 19 Landschaftsmalereien sieben Bilder nackter Jünglinge mit explizit dargestellten Geschlechtsteilen.

Sie selbst habe sich beim Malen der Männer weniger auf deren Nacktheit als auf die Gratwanderung Objekt versus Individuum konzentriert, sagt Kirschgarten. Für einen grossen Teil der BetrachterInnen standen dann aber doch die Penisse im Vordergrund: Einige der Aufsichtspersonen warnten BesucherInnen mit Kindern verschämt, dass sich unter den Werken pornographisches Material befinde. Ausserdem wurden verschiedene Anwesende dabei beobachtet, wie sie sich peinlich berührt aus dem Sichtwinkel des Zeitungsfotografen stahlen, der versuchte, Werke und BetrachterInnen gleichzeitig abzulichten.

Kirschgartens Bilder haben Aufsehen erregt. Irritiert der Anblick männlicher Nacktheit stärker, weil er ungewohnt ist? Wenn ja, weshalb ist er denn ungewohnt? Warum zieren entblösste Brüste, anmutige Jungfrauen, nackte Evas, sich auf Sofas räkelnde, spärlich bekleidete Musen wie selbstverständlich die Leinwände der letzten Jahrhunderte (man beachte an dieser Stelle auch die Kunstseiten der letzten ­Lappi-Ausgabe), während ihre männlichen Pendants fast gänzlich fehlen oder sich mit Feigenblättern bedeckt halten?

Ein weiterer Grund dafür könnte laut Kirschgarten der männliche Drang nach dem Vergleich sein: Männer hätten oft das Bedürfnis, sich zu messen, sich zu vergleichen. Indem Männer, wann immer sie die Möglichkeit dazu haben, Bilder entblösster Geschlechtsgenossen in der Öffentlichkeit wegliessen, würden die Gelegenheiten, sich zu vergleichen, verringert. Somit fielen auch potentielle Minderwertigkeitsgefühle weg.

Verhüllt und ­mystifiziert

Beim Betrachten einer exemplarischen Serie Akte beider Geschlechter fällt nebst der unterschiedlichen Häufigkeit aber vor allem die divergierende Art der Verbildlichung nackter Männer und Frauen auf: Nackte weibliche Personen werden fragil und sinnlich dargestellt. Sie beschränken sich darauf, nackt und schön zu sein, im anrüchigsten Fall vielleicht erotisch, während nackte Männer eher in einen geschichtlichen Kontext gesetzt oder beim Arbeiten porträtiert werden und Stärke ausstrahlen.

Unzensiert: Männliche Aktstudie von Théodore Géricault, 1815.

Unzensiert: Männliche Aktstudie von Théodore Géricault, 1815, und Aktstudie (Selbstbildnis) von Albrecht Dürer, 1505.

Auffällig ist vor allem, dass der Mann kaum je gänzlich entblösst dargestellt wird: Entweder schlingt sich ein leichtes Tuch um die Lenden, oder dann übernimmt ein Feigenblatt diese bedeckende Funktion. Eine mögliche Erklärung hierfür ist das eingangs erwähnte Schönheitsbild: Gemeinhin wird vermutet, der männliche Körper sei weniger ästhetisch. Dabei bezieht sich diese Vermutung oft auf das Geschlechtsteil der Herren der Schöpfung: Während ihre Träger muskulös und sportlich sein können, dürften die Penisse in nicht-erigiertem Zustand schlaff und schrumplig wirken. Sie sind unnötige Anhängsel, regelrechte Unhängsel, die den Gesamteindruck des potenten Mannes schmälern würden. Folglich verstecken sie sich lieber unter einem Blättchen und warten darauf, dafür genutzt zu werden, wofür sie wirklich gut sind.

Unzensiert: Aktstudie (Selbstbildnis) von Albrecht Dürer, 1505.

Dies sei allerdings nicht schon immer so gewesen, betont Kirschgarten: In der griechischen Antike sei die männliche Schönheit viel populärer und von einer ästhetischen Wichtigkeit gewesen – was noch heute Statuen von hüllenlosen griechischen Göttern und diskuswerfenden Männer bezeugen.

Mit dem aufkommenden Christentum und der einhergehenden Leibfeindlichkeit beschloss der Penis jedoch, sich der Öffentlichkeit zu entziehen und seine Existenz fortan nur noch anzudeuten. So blieben die Dimensionen des männlichen Geschlechtsteils künftig der (weiblichen) Fantasie überlassen, was das Aufsehen um selbiges bloss steigerte. Je mehr der Penis von der Bildfläche verschwand, desto stärker wurde er mystifiziert – gerade seine anscheinende Nicht-Existenz machte ihn zu etwas Wichtigerem als das weibliche Geschlechtsteil.

Mehr Penis dank Schwulenbewegung

Es gibt aber Hoffnung, den Penis auch im nicht-privaten Rahmen bestaunen zu können: Nadja Kirschgarten zeigt in ihrer Forschungsarbeit nämlich auf, dass die aufkommende Schwulenbewegung der Achtziger als wichtiger Faktor dazu beigetragen hat, die männliche Nacktheit zu zelebrieren und dabei den Mann als Objekt seiner eigenen Schönheit ins Zentrum zu stellen. Und das ist gut so. Schade nur, dass bei dieser Enttabuisierung wiederum die Männer selbst pinselführend waren.

Es bleibt zu hoffen, dass vermehrt auch Frauen männliche Akte darstellen und dabei eine weniger anstrengende Suche nach den passenden Objekten betreiben müssen als es Nadja Kirschgarten tun musste.

Es ist an der Zeit, dass sich der Penis dem künstlerischen Auge preisgibt. Denn genau wie das Recht auf Politisieren, sich Raufen und klar Denken nicht nur Männern vorbehalten ist, so ist es auch kein rein weibliches Privileg, schön und nackt und somit vielleicht auch verletzlich zu sein.