Die Metamorphose des Wortes Kultur

Auslese

Ein kulturtheoretischer Essay des peruanischen Autors Mario Vargas Llosa.

Wer aus der Provinz kommt und sich in Paris in einem Bistro am Boulevard Saint-Michel zu einem Rendez-vous verabredet oder dort einfach nur Zeitung liest, den mag ein Gefühl von urbanem Lebensstil überkommen. Gleichzeitig wird er an die vergangene Zeit (gross)bürgerlicher Kultur erinnert, die es selbst Exponenten ihrer grössten Kritiker wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir erlaubten, dort zu verkehren.

Wer damals jedoch schon zu den Boulevardblättern – bleiben wir in Frankreich: zum France Soir – gegriffen hat, outete sich als jemand, der sich nicht zur mondän-
eleganten Elite eines gehobenen Kulturkreises zählte. Eine nochmals andere Färbung verlieh dem Begriff Boulevard ein Bäcker, für den ich vor über dreissig Jahren in aller Herrgottsfrühe Holzofenbrote in die halbe Ostschweiz ausfuhr: Nachdem ich zum zweiten Male verschlafen und er mich in der Folge fristlos gefeuert hatte, meinte er kurz darauf fast schon wieder versöhnlich gestimmt, ich sei eben wohl eher ein Boulevardier denn ein Chauffeur-Ausläufer, wobei er wohl an einen Müssiggänger dachte, der ab und an ein Buch liest oder gar Gedichte schreibt.

Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa legte im vergangenen Jahr unter dem Titel «la civilizacirón del espectáculo» einen raffiniert gegliederten Essay zum Thema Kultur vor, der in der spanischsprachigen Welt auf grosses, wenn auch nicht einhelliges Echo stiess. Vargas Llosa, der sich nebst seinem umfangreichen erzählerischen Werk auch immer wieder als unbestechlicher, liberaler Denker an die Öffentlichkeit richtet, wird im deutschsprachigen Raum auch mit diesem Band kantig anecken.

Allein der Untertitel «Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst» provoziert wohl schon manchen Zeitgeistsurfer, da im heutigen Verständnis alles in gewisser Art Kultur ist und so auch Teil eines jeden Menschen. Doch wer auch noch einem traditionelleren Kulturverständnis nahe steht, wird sich fragen, was denn diese Kultur so mächtig macht, dass man sich mit ihrem Verlust selber verliert.

Gleich im Eingangskapitel nimmt einen der Autor mit auf eine Zeitreise und erläutert am Beispiel von fünf Autoren den rasanten Bedeutungswandel des Kulturbegriffs im Verlauf der letzten sechzig Jahre. Vargas Llosa beginnt seinen nur wenige Seiten langen Tour d’Horizon mit einem Aufsatz von T. S. Eliot aus dem Jahre 1949: «Beiträge zum Begriff der Kultur», woraus Vargas Llosa, ohne gleich fundamentale Kritik anzubringen, etwa zitiert, dass «Kultur und Gleichheitsstreben einander widerstreiten». Und schon möchte man gleich ein lautes «Halt!» ausrufen und das Buch des Peruaners mit Schmäh zuklappen – und man hätte definitiv ziemlich viel verpasst.

GEORG FREIVOGEL ist Buchhändler und betreibt das «Bücherfass» an der Webergasse. Seine Kundschaft schätzt ihn als Berater, der immer den passenden Lesetipp bereit hält.

Obwohl zwischen den Zeilen durchaus spürbar ist, dass Vargas Llosa die kulturellen Werte, wie Eliot sie beschreibt, für bedenkenswert hält, lässt er den Autor von «The Waste Land» von George Steiner kritisieren; der Marxist Guy Debord bringt wiederum ganz andere Blickwinkel ein und stellt im Weiteren fest, dass der Überfluss an Waren einer «Banalisierungsbewegung» Vorschub leiste und «der wirkliche Konsument zu einem Konsumenten von Illusionen wird».

Im 2010 erschienenen Buch «Mainstream» des Soziologen Frédéric Martel sieht dann Vargas Llosa, fasziniert und erschreckt zugleich, dass die Unterhaltungskultur, der Mainstream, das, was bis vor wenigen Jahrzehnten noch als Kultur verstanden wurde, ersetzt hat. Bücher und Autoren kommen in dieser neuen Kultur nur noch am Rande vor, genau so wie Malerei oder Bildhauerei, dominierend ist Entertainment: Film, Videos, Mangas, Pop- oder Rapkonzerte etc. «Wesentlich für diese neue Kultur», so Vargas Llosa, «sind die industrielle Massenproduktion und der kommerzielle Erfolg.» Nach diesem einführenden Kapitel, das treffend mit «Metamorphose eines Wortes» betitelt ist, folgen sechs Kapitel, die aufzeigen, wie sich der alte und neue Kulturbegriff in Religion, Politik aber auch Kunst manifestieren. Diese eher theoretisch gehaltenen Teile untermalt der Autor mit passenden Texten, die in den vergangenen fünfzehn Jahren zumeist in der spanischen Zeitung «El Pais» erschienen sind.

Vargas Llosas Meinung muss nicht geteilt werden, doch einmal mehr ist ihm mit «Alles Boulevard» gelungen, dem Leser oder der Leserin auf packende Weise zu zeigen, dass Weitsicht fehlt, wo nur im schwachen Schein der Aktualitätstaschenlampe vorwärts gestolpert wird. Kurz: Ein Buch für kritische Geister jeglicher Couleur, die sich ohne Scheuklappen der Frage stellen: Alles Boulevard – wollen wir das?

Ein Gastbeitrag von Georg Freivogel