Wein trinken, bis man doppelt hört

Im Innern der Kuh wird das Selbstverständliche zum Balanceakt. Zu Besuch im ersten Dunkelrestaurant der Welt.

Eben stand mein Rotweinglas doch noch direkt neben meinem Salatteller. Zumindest da, wo ich glaube, befindet sich mein Teller. Ungeschickt taste ich mich der Gabel entlang Richtung Tischmitte, wo ich bloss einen nassen Fleck und eine fremde Hand erfühle, nicht aber mein verschwundenes Weinglas. Argwöhnisch stupse ich den Nachbar zu meiner Rechten, der sich mit seinem Gekicher schnell als der Dieb entlarvt. Reuig gibt er mir das Glas zurück und platziert es dabei aus Versehen auf meinem Arm.

Von da an lasse ich mein Weinglas für den Rest des Abendessens nicht mehr aus den Augen. Beziehungsweise, ich lasse es nicht mehr los. Denn die Augen sind in der völligen Dunkelheit absolut nutzlos.

Wir befinden uns in der «blindekuh», dem weltweit ersten Dunkelrestaurant, wo Sehende einen Abend lang die Möglichkeit haben, sich ein Leben ohne Augenlicht vorzustellen.

Die «blindekuh» im Zürcher Seefeld gibt es seit 1999 auf Initiative der gemeinnützigen Stiftung Blind-Liecht, die das Verständnis zwischen Sehenden und Blinden beziehungsweise Sehbehinderten fördern will. Im Service arbeiten ausschliesslich Blinde oder Sehbehinderte.

Schon Platznehmen ist schwierig

Unsere Kellnerin und einzige Orientierungshilfe heisst Janka. Sie ist seit ihrem achten Lebensjahr fast blind und arbeitet seit der Gründung in der «blindekuh». Während wir im beleuchteten Vorraum auf sie warten, erhalten wir ausführliche Instruktionen zum Ablauf des Abendessens, suchen unser Menu aus und verstauen Wertsachen sowie sämtliche Leuchtquellen in einem Schliessfach.

«Tisch vier», tönt es vom Vorhang, wo Janka auftaucht und uns zackig bedeutet, ihr in Polonaise-Formation zu folgen. Sobald der schwere, schwarze Vorhang zufällt, packt uns ein unangenehm klaustrophobisches Gefühl: Geschirrgeklimper, Gespräche und Düfte überfordern im ersten Moment die Sinne, die durch die fehlende Hilfe der Augen ebenfalls beeinträchtigt scheinen. Kurz überlege ich, gleich wieder umzukehren und in Richtung Licht, Richtung Orientierung zu stürzen. Der Raum ist mit dicken Fensterläden und Vorhängen so effizient abgedunkelt, dass sich die Augen auch nach zwei Stunden nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Das wiederholte wilde Handwedeln vor eigenen und fremden Augen bleibt völlig unbemerkt.

Glücklicherweise befindet sich unser Tisch gleich neben dem Eingang, allein das Platznehmen ist schwierig und wir sind froh, nicht weiter durch die Dunkelheit stolpern zu müssen.

Nach einer kurzen Akklimatisierungszeit beginnt eine erstaunliche Verlagerung der Sinne: man beginnt, anhand des Echos die Grösse des Raumes abzuschätzen, mit der Nase zu riechen, was der Nachbartisch isst und mit den Händen zu ersehen, ob der Tisch dekoriert ist – ist er nicht. Unwillkürlicher Körperkontakt gewinnt an Wichtigkeit und ist viel weniger unangenehm, als er es bei Licht wäre. Gerade für Janka ist er sogar unentbehrlich: Um Wein einzuschenken, tastet sie sich unseren Armen entlang und lässt die Flasche in der Obhut der Vetrauenswürdigsten unter uns.

Während Janka die Vorspeise serviert, bittet sie uns, niemals ohne ihre Hilfe aufzustehen oder gar herumzugehen. Die KellnerInnen verfolgen immer die gleichen Wege Richtung Küche und kündigen ihr Kommen mit einem deutlichen «Service, Service!» an; herumwandelnde Gäste könnten also zu prekären Zwischenfällen führen. Schnell wird uns bewusst, wie hilflos man in dieser Dunkelheit ist: Der Weg zur (beleuchteten) Toilette ist nur mit fremder Hilfe möglich. Diese Form von Abhängigkeit ist ungewohnt und anfangs unangenehm, aber bald schon akzeptieren wir diese Unmündigkeit und können ihr fast etwas Gemütliches abgewinnen. Man konzentriert sich stärker auf sich selbst, lauscht den Geräuschen, gähnt, kratzt sich einfach mal so unter den Armen, schneidet Grimassen.

Leere Gabeln und Hände im Teller

Den ersten Gang startet die Schreibende zuversichtlich zivilisiert mit Messer und Gabel. Das ist nicht ganz einfach, wiederholt kommt die Gabel leer zum Mund oder trifft diesen nicht, so dass der Pulli schnell zum Auffangbecken wird. Andererseits hat man ständig irgendwelche Hände im Teller, die sich mit Mais und … und, «ja, was ist das denn überhaupt? Ah, eine Kaper», bedienen.

«Die Leute sind im Dunkeln viel weniger zurückhaltend», meint Adrian Schaffner, Geschäftsführer der «blindekuh». «Sie mustern ihre Mitmenschen nicht, wie sie es bei Licht machen, und kommen so schneller ins Gespräch.» Gespräche scheinen in der Dunkelheit ohnehin anderen Regeln zu gehorchen: Während bei Licht ein gutes Gespräch unter anderem auf dem zustimmenden Nicken des Gegenübers oder dem fragenden Stirnrunzeln basiert, ist man in der «blindekuh» auf rein verbale Rückmeldungen angewiesen. Fallen diese weg, bricht das Gespräch sofort ab und es entstehen längere, aber kaum unangenehme Schweigepausen.

«Ich bringe noch etwas Wein. Wo ist Ihr Glas?», möchte Janka wissen und lacht laut, als die Frage mit einem höchst nutzlosen «hier» beantwortet wird. Janka ist sich gewohnt, dass sich Gäste in der Dunkelheit zuweilen ungeschickt anstellen. Und, wie auch sie bestätigt, hemmungsloser. Ab und zu fühle sich jemand versucht, sich auszuziehen und Pärchen, die plötzlich ineinander verschlungen dasitzen, seien auch keine Seltenheit.

Kameras, die dieses Treiben aus Sicherheits- oder Kontrollgründen aufnehmen würden, gebe es aus Respekt vor den Blinden keine, betont Schaffner.

Beim Hauptgang Tagliatelle mit Auberginen-Gratin und Feta haben alle auf den Tastsinn umgestellt. So können die Bissen dosiert werden, und man läuft nicht Gefahr, an einem zu grossen Stück Feta zu ersticken. Um solche Situationen zu vermeiden, erklärt Schaffner, würden grundsätzlich kein Fleisch mit Knochen oder Fisch mit Gräten serviert. In seiner Küche arbeiten nur sehende Mitarbeitende; aus Effizienz- und Hygienegründen. Ausserdem sollen die Teller, auch wenn die Augen nicht mitessen, ansehnlich angerichtet werden.

Feuchtlappen-Munition

Wer nicht sieht, beginnt angestrengter zu hören – allerdings nicht doppelt, wie es sich die Lappi-Redaktion anfangs vom teuren Wein erhofft. So fällt unserem Nachbartisch bald der «St. Galler-Dialekt» der Lappi-Redaktion auf, wobei nur ein Teil den Dialekt belächelt, während ein anderer Teil eindeutig mit der schönen Stimme von Redaktor K. flirtet. Als St. Galler beleidigt zu werden, können die SchaffhauserInnen nicht auf sich sitzen lassen und beginnen, die durchnässten Tischsets in die Richtung der bösen NachbarInnen zu werfen – was leider unbemerkt bleibt.

Und als Janka nach dem klebrigen Mango-Tiramisu eine Schale mit «Feuchttüchlein», die sich als triefende Feuchtlappen herausstellen, auf den Tisch stellt, werden auch diese zur Munition. Ob sie ihr Ziel finden und ob die Lappen, die danach die Mehrheit der Lappi-Redaktion im Gesicht treffen, tatsächlich von den ZürcherInnen oder doch aus den eigenen Reihen stammen, bleibt den Geheimnissen der Dunkelheit überlassen.

Das Essen in der «blindekuh» ist zwar durchaus lecker, aber insgesamt unspektakulär und nebenbei ziemlich kostspielig. Es ist die Dunkelheit, welche die «blindekuh» zu einem Erlebnis macht. Einen Abend blind zu verbringen, ist für Sehende ein Spass, der eine gewisse Freiheit mit sich bringt. Undenkbar ist es, als einzige Blinde unter Sehenden einigermassen ungehemmt vorzugehen. Undenkbar ist es auch, sich als Blinde aus diesem geschützten Raum hinaus zu begeben.

Aber genau das ist die Realität für all die Blinden, denkt man, während man beduselt den schwarzen Vorhang zur Seite schiebt und dem gleissenden Licht entgegenstolpert.