Alberik Ziegler ist einer der letzten Korbflechter der Schweiz. Ein Beruf, den er erst erlernte, als sein Augenlicht abnahm.
«Manchmal ist alles ganz hell, und manchmal auch ganz dunkel», sagt Alberik Ziegler auf die Frage, was er sieht. Seit neun Jahren ist er vollständig blind. An welcher Augenkrankheit er erblindet sei, wisse er nicht. «Fotos anschauen und Zeitungen lesen, das fehlt mir schon», sagt Ziegler.
Die Parterrewohnung in Beringen ist geräumig und sehr ordentlich, die Gänge sind breit, nichts steht im Weg. Das Wohnzimmer verfügt über eine riesige Fensterfront, doch die Aussicht ist bescheiden: Das nächste Haus ist sehr nahe gebaut und verdeckt die Abendsonne.
In den WERKSTÄTTEN DER BLINDEN-FÜRSORGE im luzernischen Horw werden seit über 100 Jahren in verschiedenen Fachbereichen Ausbildungsplätze für sehbehinderte und blinde Menschen angeboten. Mehr Infos: www.bfvi.ch
Alberik Ziegler wurde am 21. November in Bauen, Uri geboren. Nach der Schule lernte er Sanitär, doch nach 15 Jahren konnte er den Beruf nicht mehr ausüben, weil er nicht mehr genug sah. Auf Empfehlung des Blindenbundes absolvierte er eine zweite Lehre als Korbflechter. Dort lernte er Sandra Reich kennen, die beiden wurden ein Paar. Nach der Lehre zogen sie nach Beringen, eröffneten eine Werkstatt und verkauften Körbe, Zeinen und Krippen.
Im letzten Herbst starb Alberik Zieglers langjährige Begleiterin, und er war allein. «Ihren Blindenführerhund haben sie mitgenommen, keine Ahnung warum» sagt Ziegler. «Aber diesen Monat wäre der Hund ohnehin pensioniert worden», und schon schmunzelt es wieder hinter dem buschigen Bart.
Ziegler bietet Kaffee an, Hilfe lehnt er ab und holt zügig Tassen und Nespresso-Kapseln aus dem Regal. «Ich habe oft Besuch», sagt er. Mittwochs kommt die Putzfrau, reinigt die Wohnung und kocht ein Mittagessen, zu dem meist auch ihr Mann dazustösst. «Er hilft mir mit allem, was schriftlich ist, Steuern, Abstimmungen und solche Dinge.» Bisher macht der Rentner all das gratis, doch Ziegler hat bei der Invalidenversicherung beantragt, dass der Freund dafür entgolten wird.
Fühlen, ob das Licht brennt
Zur Bank, zur Post oder in den Coop lässt Ziegler sich begleiten, im Haushalt ist er hingegen relativ selbstständig, er kocht gerne und regelmässig, Herd und Ofen haben spezielle Armaturen, die Mikrowelle kann sprechen. Auch der Radiowecker auf der Küchenablage hat eine Stimme. Sie sagt «Guten Abend, jetzt ist es 18 Uhr eins» und «heute ist Montag, 22. April», wenn Ziegler den entsprechenden Knopf drückt.
Im Wohnzimmer brennt Licht. Ob er es wegen des Besuchs eingeschalten habe? Ziegler muss lachen. «Nein, das brennt wohl schon seit letztem Sonntag. Ich habe doch gedacht, es sei etwas wärmer», kichert er. Wenn er das Gefühl habe, dass eine Lampe brenne, nehme er eine Leiter und fühle mit den Fingern, ob sie heiss sei.
Der Sechzigjährige arbeitet weiterhin als Korflechter oder «Korber», wie er in seinem urtümlichen Urner Dialekt sagt. Leben kann er davon nicht, er bezieht zusätzlich eine IV-Rente. Seine Kunden kommen vorbei und beschreiben ihm den Korb, den sie sich vorstellen. Mit einem Diktiergerät notiert sich Ziegler die Masse, «aber vieles funktioniert auswendig.» Auf dem Tisch liegt ein Massstab mit Braille-Zahlen. Texte kann Ziegler nicht lesen, er hat die Blindenschrift nie erlernt.
Er habe viel Arbeit, erzählt er, und lädt die Besucher ein, ihm dabei zuzusehen. In der Werkstatt setzt er sich auf eine Kommode, vor der ein halbfertiger Korb steht. Die Weidenzweige, die horizontal in alle Richtungen abstehen, werden rasch kürzer, während Ziegler sie zwischen die senkrechten Zweige flicht.
Im persönlichen Gespräch plant Alberik Ziegler Korbwaren, die individuell AUF DIE WÜNSCHE DER KUNDiNNEN ZUGESCHNITTEN sind. Termin vereinbaren unter 052 685 34 57.
Ein lautes Rascheln und Knarzen erfüllt den Raum, so dass die Arbeit unterbrochen werden muss, um eine Frage zu beantworten. Der Korb ist Teil eines grossen Auftrags, er wird mit allerlei regionalen Spezialitäten gefüllt auf dem Bauernmarkt in Schaffhausen verkauft werden. Für jeden Korb, den ihm die Bäuerinnen für 28 Franken abkaufen, braucht er etwa drei Stunden. Ob die Arbeit schwieriger sei, seit er blind ist? «Nein, wenn man’s im Griff hat, spielt das keine Rolle.»
Kräftige Handgriffe schieben die Zweige aneinander vorbei, drehen den eingespannten Korb um einige Zentimeter und flechten weiter. Zwischendurch hämmert Ziegler den bereits fertiggestellten Teil des Korbs dichter zusammen und misst mit einem Hölzchen die Höhe. Die Hände sind beim Suchen des Werkzeugs etwas ungeschickt, doch sobald sie das Flechtwerk wieder berühren, setzt die Routine ein, der Korb wächst mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
«Sägen hat Mut gebraucht»
Die grösste Überraschung in der Werkstatt ist die Tischkreissäge. Ziegler hat fast all seine Möbel selber geschreinert, vieles nachdem er das letzte Augenlicht verlor. Regale, Bänke und Kommoden mit Schubladen, alles passt auf den Millimeter. «Es hat schon etwas Mut gebraucht, wieder an die Säge zu stehen.» Verletzt habe er sich dabei aber noch nie.
Den Abschluss des Korbes wird Ziegler aus helleren Weidenzweigen flechten, doch davor müssen Korb und Material in Wasser eingelegt werden. Er hat noch viel Arbeit vor sich, die Bäuerinnen haben vierzig weitere Körbe bestellt. Ziegler muss aufholen, weil er kürzlich zum ersten Mal seit Jahren in den Ferien war. «Bei meiner neuen Freundin», sagt er mit einem verschmitzten Grinsen.