Im Herz der Finsternis hat sich eine eigentümliche Kultur entwickelt. Doch die urbane Zivilisation rückt unaufhaltsam näher.
Der Bus steht an der Haltestelle B1. Es ist der einzige leere Bus im Regionalbushof in Schaffhausen. Kurz bevor er abfährt dann doch noch: Eine Frau mit Einkaufswagen und einige Kinder steigen ein.
Man grüsst sich, schafft Kontakt und bildet eine kleine soziale Gemeinschaft. Vielleicht ist es eine Vorahnung, welche dunklen Momente auf uns zukommen werden, die die Herdenbildung fördern. Es geht hinauf auf die Breite, dann durchs schattige Hauental zur Sommerwies, dem äussersten Ausläufer der Stadt, der bis in den hügeligen Randen hineinreicht. Die meisten Kinder steigen aus, es wird leiser im Bus.
Die urbane Zivilisation endet, aber wir wissen aufgrund eines überlieferten Liedes, dass es noch weitergeht. Die Lappi-Redaktion hat deshalb ein Expeditions-Team entsandt, um die Bevölkerung, die abseits der Sonne in den finsteren Tälern und Wäldern des Randens herangewachsen ist, genauer zu dokumentieren. Der Bus hat das Stadtgebiet verlassen und fährt durch die sumpfige Tallandschaft.
Schnell weg, die Städter kommen
«Goht me dich go sueche, chliises Dörfli Hämetal, isch me ufem Weg zmol einsam, und s’wird ehnder schmal», heisst es im Lied, das die Abenteurer studiert haben. «Langsam hät me s’Gfüehl, me chömm as End vo däre Welt, jo, me isch sich nümme sicher: Hät me dich verfählt?» Es wird noch stiller im Bus. Die Mädchen vor uns rücken näher zusammen, eines legt den Kopf auf die Schulter des anderen. Wer weiss, was sie am Ende des Tals schon erlebt haben.
Das Gestrüpp neben der Strasse wird dichter, bis sich rechts eine Felswand erhebt. Die Sonne steht hoch am Himmel, verbirgt sich aber hinter dicken Wolken. Nach der Kurve endlich der Dorfeingang. Nur eine Häuserzeile links und rechts der Strasse haben im schmalen Tal Platz. Der Bus muss abbremsen, er kommt kaum durch die Häuserschlucht, dann erreichen wir eine Kreuzung, es ist der Dorfplatz. Wir haben das Herz des Schattentals erreicht.
Wir steigen aus und gehen durch die leeren Gassen, begleitet vom Rattern grosser Schlagbohrmaschinen, die von den Flanken des Tals widerhallen und deren Ursprung nicht auszumachen ist. Die Kinder auf den Strassen verschwinden, sobald wir näher kommen. Türen werden bei unserem Anblick zugeschlagen. In die zahlreichen Hinterhöfe wagen wir uns nicht.
Die Schlatters sind die Mächtigsten
Den Hattenhof und den Leuenhof haben wir hinter uns gelassen, wir steigen hoch und erreichen den Schlatterhof. «Schtiigt me denn i d’Hööchi, tot sich zmol e Wiiti uf, und die klari Luft doo obe gschpürsch bi jedem Schnuuf», heisst es im überlieferten Hemmental-Lied. Wir sind zwar erst wenige Meter den Abhang hochgestiegen, eine Weite hat sich noch nicht aufgetan, doch von den Häusern sind bereits nur noch die Dächer zu sehen.
Dem Vernehmen nach sind die Schlatters von den drei Geschlechtern, die einst in die Wildnis ausgezogen waren und die Wilden unterworfen hatten, das mächtigste. Lange Zeit stellten sie den Häuptling der Gemeinschaft, und auch jetzt stellen sie die beiden Abgesandten im Zentralparlament in Schaffhausen. Doch das Reich im RandenÂdschungel bröckelt. «Erahne loht sich, da doo nid nu d’Sunne schiint, da au doo emol e böses Wort zum andre findt.»
Die Patrouille erwischt jeden
Irgendwann werden wir von einer einheimischen Patrouille entdeckt. Ein Herr in den 60ern fährt mit dem Auto vor, die Scheibe heruntergekurbelt: «Was macht ihr hier?» Wir erklären, dass wir das Dorf anschauen. «Ihr seid aus der Stadt?», fragt er. Wir bejahen. Er scheint in letzter Zeit öfter mit Menschen aus der Stadt zu tun gehabt zu haben, die Antwort überrascht ihn nicht. Er lässt von uns ab.
Die Zivilisation rückt näher, und auch Hemmental wächst das Tal hinunter, der Sonne entgegen. Denn im Tal ist nicht viel zu holen. «Wer noch Gold und Silber suecht, dä findt doo hinne nüüt», heisst es im Lied. Der Lappi hat von Bauern vernommen, dass sie wegen mangelnden Sonnenscheins den Anbau von Sonnenblumen aufgegeben haben. Da hilft es auch nicht, dass aufgrund der Fusion mit Schaffhausen ist die durchschnittliche Zahl der Sonnenstunden der Gemeinde im Jahr statistisch gestiegen ist. Doch die jetzigen Kulte und Rituale sind akut bedrängt.
Noch wehren sie sich im Tal hinten gegen den Anschluss und die urbane Zivilisation. Mit Gesängen wie «Wiene Perle inre Muschle, wienen Vogel i sim Nescht», beschwören sie den Geist der Talschaft. Sie begeistern sich für ihr Schattendasein, doch ihr Schicksal ist auch den Talbewohnern bewusst. «S’Chirchli über dir, da mahnet doorum alli draa: Mached Friede, sueched Weg, won ihr chönd zäme goh.» Noch gibt es sie, die HemmentalerInnen.
Der Nachmittag ist fortgeschritten und wir suchen die nächste Bushaltestelle, bevor die Dunkelheit im Tal einbricht.