Ein Jahrhundert Arbeitskampf

Immer wieder kämpften ArbeitnehmerInnen auf den Schaffhauser Strassen für ihre Rechte und faire Löhne. Eine Zeitreise.

Die Schaffhauser Gartenbauer haben ihr erstes Etappenziel erreicht: Stufenweise Erhöhung des Mindestlohns. Von ihrem eigentlichen, vielleicht noch wichtigeren Anliegen, einem allgemeingültigen Gesamtarbeitsvertrag, sind sie jedoch noch ein gutes Stück entfernt. Zwei Reisen zurück in die Vergangenheit prägender Streiks sollen uns einerseits vor Augen führen, wie sich das Phänomen Streik in der Region Schaffhausen in den letzten 100 Jahren entwickelt hat, andererseits aber auch einen Blick auf das ermöglichen, was noch alles auf die «rote Artillerie mit dem grünen Daumen» (WOZ) zukommen könnte.

Ein ganz gewöhnlicher Augusttag auf dem Fronwagplatz. Es scheint noch früh am Morgen zu sein: Einige ungeladene Pferdefuhrwerke und Handwagen stehen da, ansonsten wirkt der Platz verlassen. Es herrscht kaum Betrieb und die Geschäfte haben fast alle noch ein säuberlich von Hand geschriebenes «Geschlossen»-Schild an der Türklinke hängen. Heute ist Samstag, der 11. August 1906. Ich entschliesse mich zu einem gemütlichen Spaziergang durch die Strassen, das Schaffhausen vor über 100 Jahren bekommt man ja schliesslich nicht jeden Tag zu Gesicht.

Streikende «Radaubrüder»

Nach einiger Zeit entdeckte ich in einem Hauseingang am Rande der Altstadt eine zerknitterte Ausgabe des «Intelligenzblatts»; immerhin, sie ist von gestern. «Der Schreinerstreik dauert nun schon fünf Wochen und kein baldiges Ende desselben ist abzusehen», beginne ich leise vor mich hin zu lesen. Weiter unten eine Stellungnahme des Schreinermeister-Vereins, welche die streikenden «Radaubrüder», insbesondere die Gewerkschafter­Innen, arg kritisiert, weil das Arbeitsverhältnis zwischen Meister und Arbeiter doch bis anhin ein gutes gewesen sei.

«Ja, gut für die Meister!», vernehme ich ein heiseres Raunen hinter meinem Rücken. Ich drehe mich um. Ein grosser, kräftiger Mann in Arbeiterkleidung liegt neben mir im Eingang auf einer Steintreppe, unter sich eine verfilzte Wolldecke. Seine Haare sind zerzaust, als ob er frisch aus dem Bett käme. Ich schaue ihn etwas überrascht an und frage ihn, was er hier mache. «Ich schaue, dass bei denen dort niemand reingeht», antwortet er mit einem Wink zur gegenüberliegenden Schreinerei «Joh. Hausers Söhne». «Seit zwei Wochen hause ich hier, als Streikposten sozusagen, langsam habe ich mich aber daran gewöhnt.»

Er setzt sich auf und erzählt weiter, die Schreiner würden sich seit geraumer Zeit für eine bessere Entlöhnung und für geregelte Arbeitszeiten einsetzen, weil wegen der Teuerung viele Familien Probleme hätten, über die Runden zu kommen. Doch die Schreinermeister hätten kein offenes Ohr für diese Anliegen, daher nun der Streik.

«Eigentlich haben meine Chefs einem neuen Arbeitsvertrag bereits zugestimmt und ihn unterzeichnet, aber diese verdammten Schlangen haben ihr Versprechen wieder gebrochen, nur einen Tag später!» Wiederum zeigt er auf die benachbarte Werkstatt, murmelt einige unverständliche Fluchworte und spuckt verächtlich auf den Boden.

Ein halbes Jahr im Streik

Ganze 26 Wochen hatten die Schreiner damals, ab dem 7. Juli 1906, gestreikt. Erst im Dezember desselben Jahres gaben die Arbeitgeber den Forderungen nach und unterzeichneten einen neuen Arbeitsvertrag. Einem «tüchtigen Arbeiter» garantierte dieser neu 60 Rappen pro Stunde sowie 9.5 Stunden tägliche Arbeitszeit.

Der Schreinermeister-Verein bilanzierte darauf resigniert, die erhoffte moralische Unterstützung seitens anderer Gewerbe habe sie sehr enttäuscht. Ausserdem störte er sich an den vielen «Eckenstehern» und Streikposten, die «seit vielen Wochen auf den Strassen herumlungern, auf öffentlichen Bänken, Treppen etc. schlafen und gähnen» und die Arbeitswilligen massiv bedroht hätten. In der Tat: Die Posten gingen mit ihren anders gesinnten Kollegen alles andere als zimperlich um, allerdings kam es dabei zu keiner körperlichen Gewalt, wenn auch so manch einer damit drohte.

Wir reisen nun gut 40 Jahre in Richtung Gegenwart und überspringen somit fast ein halbes Jahrhundert, das von vielen namhaften Streiks und gewerkschaftlichen Errungenschaften geprägt war – man denke nur etwa an den Landesstreik von 1918, der auch in Schaffhausen nicht Halt machte.

Wir schreiben den 8. Mai 1946. Noch etwas benommen vom Wirrwarr des Zeitsprungs lande ich inmitten einer riesigen Menschenmenge, die skandierend durch die Schaffhauser Altstadt zieht. Die friedlichen Demonstranten – insgesamt müssen es wohl über 1500 sein – diskutieren angeregt miteinander.

Auch zwei junge Frauen, die gleich neben mir laufen, sind in ein Gespräch vertieft. Während ich die beiden kurz mustere, fallen mir sofort ihre sehnige Hände auf, die da und dort kleine Schrammen aufweisen – vielleicht Zeichen der tückischen Arbeit an einem Webstuhl? «Die haben uns lange genug nicht beachtet», meint die eine.

«Wenn dies das Einzige wäre», entgegnete die andere besorgt. «Nein, jetzt versuchen sie gar mit Arbeiterinnen ennet der Grenze unsere Löhne noch mehr zu drücken.» Nach einer Weile fügt sie entschlossen an: «So wenig ich selbst dafür bin, gegen die Sturheit der Herren Ernst und Reber kann uns jetzt nichts anderes mehr als dieser Streik helfen.»

70 Rappen pro Stunde

Es war dies der erste Streiktag der Angestellten der Bindfadenfabrik Flurlingen, der zufälligerweise gleichzeitig mit einer Protestkundgebung von 700 Bau- und Holzarbeitern stattfand. 200 Arbeiterinnen und 100 Arbeiter, die komplette Belegschaft der «Bindi», hatten sich versammelt, um für einen «Kollektiv-Arbeitsvertrag» zu demonstrieren.

Damals verdiente ein qualifizierter Textilarbeiter zwischen 1.10 und 1.45 Franken pro Stunde, während eine Arbeiterin um die 70 Rappen erhielt. Ein Hohn, zieht man den Verdienst eines – wohlgemerkt ungelernten – Bauhandlangers zu Rate (2 bis 2.20 Franken pro Stunde). Und als die Direktion der Bindfadenfabrik, die Herren Ernst und Reber – im Volksmund «Bindi-Millionäre» genannt –, einige Monate nach der Beendigung des Krieges auch noch begannen, vermehrt Frauen aus den deutschen Gemeinden Jestetten, Büsingen und Lotstetten anzuwerben, liessen Lohnkürzungen nicht lange auf sich warten.

Erste Proteststreike seitens der ArbeiterInnen erzielten leider nicht das gewünschte Ergebnis, weshalb man sich schliesslich an den Schweizerischen Textil- und Fabrikverband (STFV) wandte. Mit deren Hilfe legte man der «Bindi»-Direktion im Januar 1946 einen «Kollektiv-Arbeitsvertrag» vor. Dieser sollte der Arbeiterschaft höhere Minimallöhne, eine 48-Stunden-Woche, eine Unfallversicherung und Beiträge an die Krankenkasse garantieren.

Die «gnädigen Herren» in Flurlingen, wie die Direktion von den Arbeitern gerne genannt wurden, hatte jedoch nichts übrig für derartige Sperenzien; die Papiere des Vertrages landeten schnell irgendwo tief unten in einer Schublade, und die Arbeiterschaft wurde lange Zeit mit losen Worten hingehalten. Schliesslich sahen sowohl die Belegschaft als auch der STFV keine andere Möglichkeit mehr, als Kampfmassnahmen zu ergreifen.

StreikbrecherInnen unter der Blache

Direktor Reber soll während den ersten Streiktagen vollends davon überzeugt gewesen sein, dass die Streikenden in absehbarer Zeit, und zwar dann, wenn ihre bescheidenen Mittel zur Neige gingen, auf den Knien wieder um eine Wiederaufnahme betteln würden. Er sollte sich täuschen. Und dies trotz seiner zahlreichen Untergrabungsversuche, als er etwa Grenzgängerinnen mit Fabrikautos vom Bahnhof Neuhausen abholen und zur Arbeit chauffieren wollte. Ein anderes Mal versuchte man gar, die StreikbrecherInnen unter einer Plane getarnt per Lastwagen aufs Gelände zu schaffen.

Während sechs Wochen und drei Tagen ruhte die Arbeit, ehe die «gnädigen Herren» einlenkten. sechs Wochen lang lieferten sich die «SN» und die «AZ» unerbittliche Duelle, die längst nicht mehr in einem höflichen Ton verfasst waren, beide Seiten schoben der jeweilig anderen Partei die Schuld zu oder bezichtigten sie der Lüge. Dass die ArbeiterInnen überhaupt so lange streiken konnten, verdankten sie einer Vielzahl von Solidaritätsbekundungen und -Unterstützungen von Gewerkschaften, Privatpersonen wie Stadtpräsident Walther Bringolf selig und ArbeiterInnen aus anderen Fabriken – auch in finanzieller Hinsicht.

Die ArbeitgeberInnen unternahmen jeweils grosse Anstrengungen, um die Streikenden zu ­bekämpfen. Häufig wurden Streik­brecherinnen eingesetzt, die mit Kutschen, Autos und Lastwagen zum Einsatzort transportiert wurden. Das Bild zeigt einen solchen Transport um 1910. Bild: © Stadtarchiv Schaffhausen

Kurz nach dem Ende des Streiks bilanzierte das Streikkomitee: «Der Streik der ‹Bindi›-Belegschaft ist ein Schritt auf dem Wege zu einer neuen Schweiz. Die übrigen Textilarbeiter unseres Landes werden ihr folgen.» Tatsächlich, die Bindfabrik Flurlingen diente als reaktionäres Beispiel für zahlreiche andere Fabriken: Noch im Juli 1946 unterzeichneten 36 Textilunternehmen aus verschiedenen Teil-Branchen – teils nach einem Streik, teils im Fahrwasser anderer – neue Gesamtarbeitsverträge, darunter auch die Tuchfabrik Schaffhausen AG, die Chessex u. Cie. sowie die Kammgarnspinnerei. Unzählige weitere sollten folgen.

Verlässliche Haltung der «SN»

Am Ende unserer Zeitreise angelangt, springen wir nun wieder in unsere Gegenwart. Vorbei an der industriellen Hochkonjunktur Schaffhausens, einem streiklichen Ödland, während den 50ern und 60ern, ja, noch bis in die 70er. Vorbei an den unzähligen Immigranten, die in Schaffhausen Arbeit und eine neue Heimat fanden, und vorbei an Schwarzenbachs Überfremdungsinitiative.

Vergessen auch der schleichende Niedergang der Industrie und der Rückgang der Einwohnerzahlen von 1970 bis 1980 von 37’000 auf 34’000 sowie die ersten Kampfmassnahmen nach den Boomjahren, nämlich den Streiks der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) in den Jahren 1980 und 1994. Vorbei am Schweizer Frauenstreik vom 14. Juni 1991, bei dem gegen eine halbe Million Frauen zum zehnjährigen Bestehen des Verfassungsartikels «Gleiche Rechte für Mann und Frau» ihre Arbeit ganztags niederlegten. Passé der Streik der grafischen Industrie und der Gewerkschaft Comedia im Oktober 1999 für eine Nachbesserung des GAV. Und vorbei schliesslich am letztjährigen Lehrerstreik hin zur aktuellen Thematik rund um die Schaffhauser Gartenbauer.

Andere Zeiten, andere Sitten, was sollen nun also zwei Beispiele aus den Jahren 1906 und 1946, von längst vergessenen Erfolgen und nicht mehr existierenden Unternehmen? Der Zahn der Zeit nagt ja bekanntlich an jedem und allem, und stumpfer wird der mit zunehmendem Alter auch nicht. Überraschenderweise kann man jedoch feststellen, dass sich im Laufe der Jahre gar nicht so viel verändert hat, wie gemeinhin angenommen wird, und genau daraus sollen nun einige Schlüsse gezogen werden.

Fakt ist, dass ein Streik nur dann Erfolg hatte, wenn auch ein Grossteil der Schaffhauser Bevölkerung hinter den Motiven der fast immer handwerklich tätigen Arbeiter stand, und nur dann zur Anwendung kam, wenn sowohl Angestellte als auch Gewerkschaft keine andere Möglichkeit mehr sahen, da die Verhandlungen geplatzt waren. Denn heute wie auch vor über 100 Jahren gilt: Niemand möchte streiken, da gemeinhin alle erleichtert sind, wenn es wieder zur Arbeit geht.

Zudem fällt auf, dass es den Arbeitgebern nach wie vor nicht in den Kram passt, wenn sich die Arbeiterschaft zur besseren Organisation mit einer Gewerkschaft zusammenschliesst. Speziell, aber zumindest verlässlich, ist auch die Haltung der «SN» gegenüber streikenden Arbeitnehmern. Die Zeitung mit der heutigen Monopolstellung machte in den vergangenen Jahrzehnten nie einen Hehl daraus, dass sie von einer protestierenden Arbeiterschaft so gut wie nichts hält. Noch nicht einmal während der Drucker-Streiks (1980/1994) vermochten die Verantwortlichen etwas Verständnis für ihr benachbartes Gewerbe aufzubringen; stattdessen versuchte die Redaktion in bester Streikbrecher-Manier, die Zeitung auch ohne technisches Personal trotzdem zu Papier zu bringen.

Was aber immer wieder einen Wandel durchlief, ist die Sprache, die ausgetauschten Nettigkeiten. Noch zu Zeiten des Landesstreiks waren Morddrohungen vor allem von Seiten der Arbeiterschaft keine Seltenheit, während der Ton später von Jahrzehnt zu Jahrzehnt etwas gemässigter wurde. Allerdings, so scheint es, hat die Ausdrucksart in jüngster Zeit doch wieder schärfere Züge angenommen. Gut möglich also, dass den Gartenbauern zukünftig wieder ein rauerer Wind entgegenschlagen wird. Aber Geduld und Beharrlichkeit, auch das zeigt der Rückblick, zahlen sich letztlich doch aus.