Die neue Betriebsamkeit auf dem Flurlinger Arova-Areal: Eine Reportage in vier Akten.
Arova-Areal Nord-Ost, Gebäudetrakt S, ein brennend heisser Donnerstagnachmittag. Der Reporter ist mit Jo Müller verabredet, einem von drei Mietern eines frisch und weiss gestrichenen, hohen Raums im ersten Stock des ockernen Riesengebäudes, das einst der Zürcherstrasse nach Feuerthalen entlang gebaut worden war.
Gemeinsam mit Reto Troxler und Ilja Tschanen betreibt Müller hier seit Januar 2013 das Film- und Fotostudio «module+». Am hinteren Ende ihres neuen Studios haben sich die drei Mittwzanziger ein Fotohintergrundsystem aufgebaut, auf niedrigen Gestellen an der Seitenwand gegenüber dem Eingang lagern Kameras, Objektive, Stative und Lampen, und am nahen Ende, neben einer Sofaecke und vor einer kleinen Küche, haben sie auf zusammengeschobenen Bürotischen ihre digitale Workstation eingerichtet.
Jo Müller war der Grund für diese Reportage. Schon länger wirbt er unter befreundeten Kreativen für das Arova-Areal, möchte Künstler oder Musiker herlocken. Wie Troxler und Tschanen kommt auch Müller aus Schaffhausen. Hier, auf der anderen Seite des Rheins, haben die drei Verhältnisse vorgefunden wie nirgends in der Stadt: einen grosszügigen, zentral gelegenen Raum mit einer bezahlbaren Miete.
Seine Compagnons arbeiten am Computer, während Müller zwei Stühle auf einen Palette-Rolli beigt und die Baggage dann in einen Lastenlift zieht. Es geht ins Kellergeschoss. Aus dem Lastenlift heraus führt er den Reporter durch einen dunklen Gang in eine hell beleuchtete Halle. Hinter Müller und dem Rolli entlang geht’s an aberhunderten Kartonkisten vorbei und durch einen weiteren Gang in eine weitere Halle. Dort manövriert Müller sein Gepäck zwischen Gestellen hindurch, in denen allerlei lagert, von alten Bindfadenrollen über Autoreifen bis zu einem Surfbrett, und platziert die Stühle vor einem riesigen Lüftungsrohr aus Beton, in das ein Loch geschlagen wurde. «Hier», sagt er, «werden wir unser Gespräch führen.»
Es ist nicht so, dass es bei «module+» zu wenig zu tun gibt. Gerade arbeiten sie an einem Grossauftrag von «Swiss Athletics», porträtieren alle Athleten für die neue Webseite. Doch das Gelände hat Jo Müller spürbar in seinen Bann gezogen. Er spricht von seiner Entdeckernatur. Hier fühle er sich wie ein Kind auf einem riesengrossen Spielplatz. Man könne überall durchlaufen, Türen öffnen und mit den Leuten sprechen, die hier in der Nachbarschaft arbeiten. «Ich interessiere mich enorm dafür, was und wie hier gearbeitet wird», sagt Müller.
Vorher, als sie ein kleines Büro an der Neustadt 52 gemietet hätten, habe er diesen Austausch vermisst. Neben ihren knapp 120 Quadratmetern, der enormen Höhe ihres Raumes und des Warenlifts, sei die Nachbarschaft das grösste Plus: «Die Unternehmensdiversität ist sehr reichhaltig. Du kannst vom Handwerk profitieren und dich inspirieren lassen. Mit den Leuten der Tierklinik entstand so eine Zusammenarbeit. Wir machten den Vorschlag, Herrchen mit Hund in Szene zu setzen. Das wurde freudig aufgenommen.»
Ein halbes Leben auf dem Areal
Über zweihundert Mietern bietet das Arova-Areal heute Raum, – vom Pensionär, der eine kleine Werkstatt betreibt, bis zum Fünfzigmannbetrieb mit 3’000 Quadratmetern Produktions- und Lagerfläche. Für sie alle ist Walter Weder zuständig, der Objektleiter.
Arova-Areal Mitte, Gebäudetrakt I, ein nicht weniger brennend heisser Dienstagnachmittag. Am anderen Ende einer Metallwerkstatt steht Weders Büro. Der leicht erhöhte Raum, hell ausgeleuchtet, überall Zierpflanzen und Gestelle voller Aktenordner, bietet durch grosszügige Fenster den vollen Überblick. Früher war Weder selber im Blickfeld. Anfang Dezember 1986, nach seiner Lehre in der «Ufzügi» Schlatt, hat er hier einen Job als Betriebsmechaniker angenommen. Heute, siebenundzwanzig Jahre später, lässt sich Weder dort, wo früher sein Chef sass, in einen bequemen Sessel hinter seinem Pult sinken und beantwortet die Fragen des Reporters.
Er sei in einer Phase des Aufstiegs dazu gekommen, erzählt Weder, nachdem die Arova 1982 eine Teilschliessung erlebt hatte und viele Leute entlassen werden mussten: «Man kaufte neue Anlagen, hatte neue Visionen, die aber nach dem Tod von Herrn Cavicchiolo, der einem Herzinfarkt erlag, wieder fallen gelassen wurden». Weder spricht mit Wehmut vom einstigen Direktor der Arova Schaffhausen AG, der noch ein Patron alter Schule gewesen sei. Cavicchiolo habe noch für seine Arbeiter gesorgt und alle bei ihrem Namen gekannt, wofür sein Nachfolger seine Personalchefin habe mitnehmen müssen.
«Es gab eine neue Führung von Wattwil her, die von mir aus gesehen kein Interesse an der Arova hatte», sagt Weder. «Sie haben uns die Gurit-Supreme AG hier reingestellt. Die sollte Kohlefaserprodukte herstellen, was aber in die Hose ging. Danach war die Schliessung der Arova theoretisch beschlossene Sache. Der eigentliche Todesstoss kam dann aber erst 2005: Aus der Gurit Heberlein AG wurde die Gurit AG. Herr Wehrli von der ‹Economy Suisse› war damals am Ruder, und der hat uns über die Klinge springen lassen. Man sagte uns, der Druck aus dem Osten sei zu gross, wir müssten aufhören. Wattwil liegt im Osten, dort war der Hauptsitz von Gurit. Er hat nicht einmal gelogen. Zwei Jahre später haben sie dann die Liegenschaft verkauft, weil Gurit Geld brauchte.»
Die Chefs kamen und gingen, Weder blieb. Sein aktueller Arbeitgeber ist die Intershop Management AG mit Sitz in Zürich. Weder zeigt möglichen Mietern das Areal, führt die Verhandlungen und schaut am Tag, dass alles läuft. Während unseres Gesprächs schneien immer wieder Leute rein. Ein Getränkehändler fragt, ob Weder noch ein paar Flaschen brauche. Ein Lastwagenfahrer fragt, ob Weder seinen Vierzigtönner durch die schmale Gasse lotsen könne. «Meine Arbeit bedeutet eine Riesenabwechslung, die unterschiedlichsten Leute», sagt Weder. Sein Büro stehe für jedermann offen.
Wir wechseln an einen Tisch in der Werkstatt, wo der Reporter rauchen darf. Weder, seit der Geburt seines Sohnes Nichtraucher, stört das nicht. Wir reden darüber, dass die Bächi-Cord AG, der letzte Schnurproduzent, das Arova-Areal verlässt. Jo Müller hat den Reporter informiert, er hatte es von einem Arbeiter auf einem seiner Erkundungsgänge erfahren. «Die Arova ist ein Stück Industriegeschichte», sagt Weder, «Väter und Söhne haben hier oben gearbeitet. Seit 1872 hat man hier oben Schnur produziert. Das hört jetzt auf. Als ich angefangen habe, sagte man mir, ich sei derjenige, der das Licht löscht. Ich war damals jung und dachte mir: So ein Seich! Aber es hat sich bewahrheitet. Ich werde derjenige sein, der das Licht löscht.»
Andererseits, so Weder, sei die Umnutzung zum Gewerbezentrum, die in den Achtzigerjahren ihren Anfang genommen hatte, sobald Gebäude auf dem Industrieareal durch Auslagerungen und Abbau von Arbeitsplätzen frei geworden sind, eine Erfolgsgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte, die viele kleine Erfolgsgeschichten ermöglicht habe: Die Medizinaltechnikfirma QMEDICS AG etwa, seit vier Jahren auf dem Gelände, habe mit zwei Mann angefangen und beschäftige heute an die fünfzig Leute. Oder auch die kleine Stahlhärterei Ferrotherm AG, ehemals Georg Fischer, ausgelagert, weil sie nicht rentierte. Heute rentiere sie als Dreimannbetrieb. «Das ist noch lustig, wie die Leute etwas hervorbringen, das der Konzern nicht schafft», sagt Weder und lacht.
Angst vor Spekulanten
Zürich-West, Puls 5, Büro der Intershop Management AG, ein brütend heisser Mittwochnachmittag. Chefbewirtschafter Ruedi Graf empfängt den Reporter im Namen der neuen Arova-Eigentümerin in der klimatisierten Lounge im Eingangsbereich des Büros, eine Mitarbeiterin serviert Espresso. Graf spricht für die älteste börsenkotierte Immobiliengesellschaft des Landes mit einer Bilanzsumme von über einer Milliarde Franken. Die Intershop Management AG hat das Arova-real 2007 von der Gurit AG gekauft.
Graf erzählt, damals habe eine grosse Aufregung geherrscht, weil sie «Management» im Namen tragen würden. Man befürchtete neuerlich Spekulanten, welche der erfolgreichen Umnutzung des Gewerbezentrums dem lieben Geld willen ein schnelles Ende bereiten würden. Sie hätten die Zweifel aber schnell zerstreuen können. Auch dadurch, dass der langjährige Objektleiter Walter Weder als quasi verlängerter Arm der neuen Eigentümerin angestellt blieb. Was nicht heisst, dass die Intershop Management AG keine Pläne hat. Im Gebäudetrakt S etwa bekamen die drei neuen Mieter von «module+» einen befristeten Vertrag vorgesetzt, was auf Pläne schliessen lässt. Der Chefbewirtschafter hält sich jedoch bedeckt, verrät nur, dass ein Auftrag an ein Architekturbüro rausgehe.
Loftwohnungen wird es im Gebäudetrakt S keine geben, was auch immer Grafs Firma dort plant. Das Arova-Areal steht komplett in der Gewerbezone und müsste dafür erst umgezont werden. Das wiederum ist zwar kein Ding der Unmöglichkeit, wohl aber eher unwahrscheinlich, denn Gewerbezonen sind im Weinland knapp.
Wohl auch deshalb war das Arova-Areal schon beim Kauf durch die neue Eigentümerin aus Zürich gut vermietet. Und die Nachfrage habe seither eher zugenommen, sagt Ruedi Graf. Der Intershop-Mann beziffert die vermietete Fläche heute mit gegen achtzig Prozent. Dieses Geschäft wird sich eine Immobiliengesellschaft, die das Wörtchen «Management» im Namen führt, nicht selber vermiesen.
Auf der anderen Seite des Rheins
Arova-Areal Ost, Gebäudetrakt H, ein kühler Donnerstagfeierabend. Andrin Winteler, Iván Fernández, Rubén Fructuoso und Kooni grillieren auf dem Dach ihres neuen Ateliers. Seit Mai 2013 sind die vier jungen Künstler hier oben, mieten zusammen mit Sämi Weber knappe achtzig Quadratmeter im ersten Stock des Gebäudes. Drinnen erzählt Winteler, sie seien über «module+» auf diesen Raum gestossen. Jo Müller habe geschwärmt, wie gut es hier oben sei.
Ganz glücklich scheinen die vier jedoch nicht zu sein. Mit 800 Franken bezahlen sie hier massiv mehr als in ihrem alten Atelier in der CMC. Doch dort mussten sie raus. «In der CMC werden nun neue, hippe Büros gebaut», erzählt Fructuoso. Und Winteler fügt an: «Ich glaube es erst, wenn es so weit ist. Es wird schwierig werden, die Räume so umzubauen, dass mehr Miete verlangt werden kann.» Dass sie überhaupt hier oben gelandet sind, liegt daran, dass sie in Schaffhausen keinen geeigneten Raum gefunden haben. Fernandez berichtet von Studios im Mühlental, die zwischen 1’400 und 3’000 Franken kosteten. Und Kooni von Räumen Richtung Merishausen.
Entweder zu teuer also, oder zu abgelegen. Auch das dürfte dafür sorgen, dass die Nachfrage auf dem Arova-Areal anhält: Auf der anderen Seite des Rheins gibt es immer weniger bezahlbare Räume für junge Kreative. Für sie ist das Arova-Areal da kein schlechter Kompromiss.
Arova als Kulturort
Arova-Areal Nord-Ost, Gebäudetrakt S, ein glühend heisser Freitagnachmittag. Jo Müller steht auf dem Kiesdach, auf das ein Fenster des «module+»-Studios führt, drückt sich in den schmalen Schatten des Vordachs, raucht und schwärmt: «Als ich das erste Mal in diese Hallen getreten bin, war alles so lebendig für mich: die Sounds, die Maschinen, der Geruch, die Uhr, die auf fünf geht und dann läutet eine Glocke und die Arbeiter ziehen in den Feierabend.»
«Es war Liebe auf den ersten Blick», sagt Müller. «Und ich wusste sofort, dass ich diese alten Hallen mit ihrer Patina zum Leben erwecken muss.» Müller denkt an eine Ausstellung, an eine Kollaboration mit verschiedenen Künstlern, in der die Geschichte des Areals fassbar, hörbar und riechbar gemacht werden soll, und verrät, dass er sich bereits mit dem Objektleiter über sein Projekt unterhalten habe. Walter Weder habe ihm darauf ein Buch zum 50-Jahre-Jubiläum der «Bindi» geliehen und eine seiner ersten Arbeiten auf dem Arova-Areal sei gewesen, dieses zu digitalisieren.
Dann nimmt Jo Müller den Reporter mit auf eine letzte Tour durch das Gebäude. Wir steigen über eine Treppe auf den Estrich ihres Trakts, es ist stickig unter dem hundert Meter langen Giebeldach. Unter einem Rundfenster hinter uns an die Wand gelehnt, setzen vier kupferne Uhrenungetüme Staub an, die einstmals Beginn und Ende der Maloche angezeigt haben müssen. Und in einer Seitennische hat Müller einen weiteren historischen Fund gemacht. Er fährt mit seiner rechten Hand über die staubbedeckte Oberfläche von fünf überdimensionalen Kunststofflettern und fragt: «Weisst du, was das ist?» Da stehen sie nebeneinander angelehnt, ein grosses A, ein R, ein O, ein V und ein A, die alte Leuchtschrift aus Zeiten industrieller Produktion.
Der Name hat alle Krisen überdauert. Heute steht das Arova-Areal für ein gut funktionierendes Gewerbezentrum, das die unterschiedlichsten Leute beheimatet und die unterschiedlichsten Bedürfnisse erfüllt. Dem einen bedeutet er den Idealfall mit eingebautem Spielplatz. Anderen eine zentrale, bezahlbare Alternative zum nicht vorhandenen Idealfall auf der Stadtschaffhauser Rheinseite. Für die Eigentümerin bedeutet er eine gute Investition. Für über zweihundert Mieter einen Ort fürs eigene Business. Und für viele andere bedeutet er einen Arbeitsplatz oder gar das halbe Leben.