«Flaschbier, Fernsehen, Filzpantoffeln»

Arbeitspsychologe Ueli Kraft über Motivation, Musse und Wertschätzung in der Arbeitswelt.

Ueli Kraft, im Zusammenhang mit der heutigen Leistungsgesellschaft ist der Begriff «Work-Life-Balance» aufgekommen. Ist diese Balance heute stärker in Gefahr als früher, oder handelt es sich um einen Medientrend?

Wahrscheinlich beides. Man hat früher schon lange gearbeitet, aber unsere Grossväter sprachen noch nicht von Work-Life-Balance. Die heutige Debatte ist wohl ein Symptom dafür, dass für eine Mehrzahl der Leute das «Bügle» – im Sinne von fremdgeforderter Leistung – im Vordergrund steht. Es ist auch ein Symptom dafür, dass der Druck permanent wächst. Als Gegengewicht zum steigenden Druck und Stress wird die Freizeit immer wichtiger. Seit die Verhältnisse so sind, spricht man von Work-Life-Balance.

Sollte man öfter nichts machen?

Das sollte man sowieso (lacht). Man sollte viel mehr «nichts machen», denn die Musse ist ja nicht nichts, sondern die Zeit, in der wir reflektieren, uns erholen und soziale Kontakte pflegen. Für Leute, die selbstbestimmt arbeiten, ist die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit nicht so relevant. Wenn ich die Balance selbstbestimmt mache und in meiner täglichen Arbeit erlebe, dass ich einen sinnvollen Beitrag an die Gesellschaft leiste, bin ich eher bereit, zu abenteuerlichen Zeiten zu arbeiten.

Was ist Musse überhaupt?

Der deutsche Übersetzer und Kolumnist Harry Rowohlt hat einmal gesagt: Freiheit ist, wenn man am Morgen aufwacht und sich fragt, was man heute machen will. Eine starke Definition. Musse heisst selbstbestimmt das zu tun, wozu wir Lust haben. Dieses Prinzip gibt es seit der Antike. Bei den alten Griechen war Arbeit – im Sinne von körperlicher Arbeit – etwas, das man nur machte, wenn man in Not war, wenn man musste, um zu überleben. Wer es nicht nötig hatte, pflegte in aller Freiheit die Musse, also kreative, geistige Arbeit, Philosophieren und so weiter. Das griechische Wort für diese Art von Musse ist übrigens «schola», also die Sprachwurzel von «Schule».

«Motivation
dank Perspektiven»

Muss ich meine Freizeit so gestalten, dass ich bei der Arbeit motiviert bin?

Motivation ist ein geschundener Begriff. Wir treffen oft auf die etwas eigenartige Vorstellung, dass Motivation Sache der Arbeiter selber sei, welche entweder wollen oder halt nicht. Von der anderen Seite her gedacht – und das passt wunderbarerweise zu Erkenntnissen arbeitswissenschaftlicher Forschung –, bin ich dann motiviert, wenn ich eine Perspektive habe, wenn ich eine Möglichkeit habe, zu zeigen, was ich kann, wenn ich Anerkennung bekomme und Wertschätzung erfahre, wenn man das Produkt auch brauchen kann.

Gibt es da einen Unterschied von Berufen, in denen man kreativ arbeitet, zu denen, bei denen man einfach «büglet»?

Was heisst kreativ? Ein Landmaschinenmechaniker, der irgendein Gerät, das er vielleicht noch nie gesehen hat, reparieren soll, muss sich vorstellen, wie dieses funktionieren müsste, wenn es nicht kaputt wäre. Das setzt viel Kreativität voraus. Viele Handwerker müssen Tag für Tag Probleme lösen, mit denen sie zum ersten Mal konfrontiert sind. Das kann sehr befriedigend sein, und diese Leute sind zu recht stolz. Was heisst einfach «bügle»? Wichtig ist doch nicht das abgehoben Kreative, sondern ob ich mich in dem, was ich schaffe, auch erkenne – wer dies nicht kann, wird seiner Arbeit entfremdet, diese bleibt äusserlich, bleibt Job. Das Perfide: unsere Gesellschaft wertet viele so genannt «einfachere» Tätigkeiten ab und versagt ihnen die Wertschätzung – obwohl wir darauf angewiesen sind.

Ueli Kraft hat Psychologie und Arbeitswissenschaften studiert. Heute doziert er an Berufsbildnerseminaren während etwa 100 Tagen im Jahr, daneben pflegt er die Musse, wie er sagen würde. Kraft ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Er ist 62 Jahre alt und will nach 65 noch einige Jahre weiterarbeiten.

Kann man als Gesellschaft etwas unternehmen, damit die Wertschätzung für solche Tätigkeiten besser wird?

Ich finde es empörend, dass beispielsweise ein ausgebildeter Kellner mit seiner Berufsarbeit keine Familie ernähren kann. Dass jemand mit einer Berufsausbildung, in die er einiges investieren musste, sich kaum leisten kann, eine Familie zu gründen, ist skandalös. Und wir leben nun einmal in einem System, in dem Wertschätzung hauptsächlich monetär vermittelt wird – das ist auch skandalös.

Kann man das Wertschätzungsproblem also über die Löhne lösen?

Zumindest sollten wir einiges machen, damit die Lohnschere wieder kleiner wird.

Die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist ein Versuch, allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Auskommen zu sichern. Ist das eine Perspektive?

Die Idee hat etwas Bestechendes, aber sie wird scheitern. Denn sie widerspricht dem Wettbewerbsgedanken, dass derjenige, der mehr arbeitet, mehr verdienen soll. Das ist tief in unserer Kultur verankert, und zwar nicht nur im kapitalistischen Denken. Beispiel AHV: Sie wurde in den 40er Jahren angenommen als existenzsichernde Altersrente. Und was ist passiert nach so vielen Revisionen? Für viele ist die AHV nur noch ein Zustupf, und diejenigen, die nur die AHV haben, landen oft beim Sozialamt, weil es hinten und vorne nicht reicht. Ich könnte mir vorstellen, dass das bedingungslose Grundeinkommen ein ähnliches Schicksal erleiden würde.

«Die Leute
geben Gegensteuer»

Wenn wir über bessere Löhne oder auch 1:12 und die Löhne der Manager sprechen, betrachten wir nur den ökonomischen Wert der Arbeit. Ist das nicht problematisch?

Ja, das ist ein Problem. Andererseits versuchen die Leute ja selbst, Gegensteuer zu geben. Wenn die freiwillige Feuerwehr einen Ausflug macht, inszeniert sie etwas für sich, das ihnen Wertschätzung gibt. Sie schaffen ein Gemeinschaftsgefühl. An anderer Stelle leisten Handwerker für ein Dorffest Fronarbeit. Diese Bereitschaft hat auch damit zu tun, dass sie sich mit ihrem Fach, ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zeigen und etwas beitragen können.

Dort ist es ausgerechnet kein Geld.

Ja. Interessant ist, dass sich diese Freiwilligen Wertschätzung holen. Im Job werden sie zum Teil gerade darum betrogen. Wenn ich im Frühling das Auto zum Reifenwechsel bringe, wer gibt mir den Schlüssel zurück? Der Chef. Mir wäre es viel lieber, wenn mir der Mechaniker oder der Lehrling, der diese strenge Büez gemacht hat, den Schlüssel zurückgeben würde. Mit einer Geste, die heisst: Ich habe es gemacht, Du kannst Dich darauf verlassen, dass es in Ordnung ist. Dem Chef gebe ich kein Trinkgeld, aber dem Mechaniker oder dem Lehrling, der mir den Schlüssel zurückgibt, gebe ich eines.

Arbeit könnte so auch mehr Identifikation stiften.

Wenn ich im Arbeitsvollzug permanent Ohnmacht erlebe, gegängelt und herumbefohlen werde, dann ist es naheliegend, dass dies meine Wahrnehmung beeinflusst: «Das Sein bestimmt das Bewusstsein», hat Marx gesagt. Wenn ich einen bescheuerten Job habe, habe ich auch eine bescheuerte Freizeit. In den Achzigerjahren sprach man von den drei F der Freizeit: Flaschbier, Fernsehen und Filzpantoffeln. Wenn jemand an der Arbeit abstumpft, prägt das sein Leben, seine Wahrnehmung von sich und seinen Umgang mit Freizeit. In der Forschung lässt sich das aber nicht so schön bestätigen, denn es gibt auch Leute, die einen eintönigen und unbefriedigenden Job haben, aber in der Freizeit kompensatorisch Anspruchsvolles und Spannendes machen und nicht abstumpfen.

Und das Gleiche gilt auch im positiven Sinn?

Ja, wenn ich weitgehend selbstbestimmt arbeite und am Ende ein Produkt habe, auf das ich stolz sein kann, prägt das meine Wahrnehmung von mir selbst ebenfalls. Ich erlebe, dass ich wirksam bin, dass ich wichtig und nötig bin und etwas kann, wertvoll bin. So entsteht eine Identifikation. Interessanterweise ist dies bei vielen Leuten im Gewerbe ganz weit vorn. Wenn wir danach fragen, hören wir die Geschichten: «Diese Dachgaube habe ich vor 25 Jahren gemacht – die ist immer noch gut». Daraus entsteht ein Bewusstsein von sich selbst. Das Verrückte ist: Zunehmend mehr Gewerbler leiden darunter, dass sie der Wettbewerb zu Pfuscharbeit zwingt.

«Diktatur in
der Arbeitswelt»

Müsste eine positive Einstellung der Angestellten zur Arbeit nicht auch im Interesse der Arbeitgeber sein?

Die Arbeitgeber sind gespalten. Einerseits träumen sie von Mitarbeitern, die – siehe Stellenanzeiger – selbstbewusst und kreativ sind, die auftreten, Probleme lösen und verhandeln können. Auf der anderen Seite tun sie alles, um diese aufrechtgehenden Individuen zu kontrollieren und herumzudirigieren – auch in demokratischen Gesellschaften lebt die Diktatur in der Arbeitswelt fröhlich weiter. Das ist immer noch der schizophrene Ansatz aus der Zeit der Industrialisierung: Die Trennung von Kopf und Hand. Die Büezer mit den schwarzen Händen haben die in den Büros mit den weissen Hemden eigentlich nie geschätzt, und umgekehrt auch nicht. Der erfahrene Mechaniker will sich doch von denen im Büro nicht sagen lassen, wie er mit seiner Maschine ein kompliziertes Teil hin kriegt. Das geht seit Jahrhunderten so. Heute ist es einfach nicht mehr der Kontrolleur, sondern der Qualitätsmanager.

Und was ist konkret die Lehre daraus?

Das ist eine Antwort auf die Frage nach Arbeitsbedingungen, die uns Menschen entsprechen. Motivation ist Chefsache. Leute mit angemessenen Entscheidungsbefugnissen, die zufrieden sind mit ihrer Arbeit, die Anerkennung erhalten, die das Gefühl haben, sie kommen weiter und lernen dazu, arbeiten besser. Sie liefern bessere Qualität ab, sind weniger krank, und wechseln nicht von heute auf morgen ihre Arbeitsstelle, weil es anderswo 80 Franken mehr Lohn gibt. Solche Mitarbeitende sind deshalb auch ökonomisch interessant – entsprechende Arbeitsbedingungen vorausgesetzt. Das ist aber etwas, das so viele Arbeitgeber-Hirne immer noch nicht auf die Reihe kriegen.