Viele Frauen aus dem Osten kommen jedes Jahr in die Schweiz, um für
wenig Geld Betagte zu pflegen. Karina Kaminska ist eine von ihnen.
Tag 41 – Karina Kaminska* erwartet mich im «Seegarten» in Ermatingen. Ihre Haltung, ihre Hände und die leicht biedere Kleidung scheinen zu einer älteren Dame zu gehören, doch ihr Händedruck ist überraschend kräftig. Auch der melodiöse Singsang ihrer warmen Stimme will nicht so recht zur im Ansatz ergrauten Kurzhaarfrisur und den strengen Stirnfalten darunter passen.
Gleich zu Beginn entschuldigt sich Kaminska: Leider laufe «Rote Rosen» auf ARD heute nur bis 15 Uhr, deshalb müsse sie in einer Stunde bereits wieder los. «Freitag, also Tag 41 – keine Wiederholungen von ‹Rote Rosen›.» Tag 41? «Jetzt denkst Du sicher, ich zähle jeden Tag, weil ich es hier so schrecklich finde», sagt sie und lächelt leicht schuldbewusst. Der Grund sei aber ein anderer: Sie habe schon immer ein Faible für Zahlen gehabt, kenne Geburtstage und Telefonnummern sämtlicher Verwandter, Freunde und Nachbarn auswendig, erzählt sie. In ihrem früheren Beruf als Sekretärin habe dies viel geholfen, heute rechne sie nur noch als Zeitvertreib, beispielsweise in jedem neuen Haushalt, in den sie komme, wie lange der Vorrat an Medikamenten dort noch ausreichen werde.
Die hohen Kosten für die Langzeitpflege müssen in der Schweiz zu weit grösseren Teilen als anderswo privat finanziert werden, was für Anbieter privater Pflege- und Betreuungsdienste eine ideale Ausgangslage schafft.
Seit Karina Kaminska zum ersten Mal zum Arbeiten in die Schweiz kam, sind nahezu drei Jahre vergangen. Damals stand die Hochzeit ihrer ältesten Tochter kurz bevor und Kaminska fragte sich, wie sie für die Feierlichkeiten aufkommen sollte. Eine Freundin riet ihr, sie solle doch einige Wochen im Westen Arbeit suchen, um die Hochzeit zu bezahlen. «Ich wolle nur einmal herkommen, als eine Art Investition. Nun sorgt längst die Familie meines Schwiegersohns für meine Tochter.»
In den Monaten darauf wurde die finanzielle Lage ihrer Familie jedoch schwieriger. Das kleine Einkommen der ältesten Tochter fiel weg, ihr Sohn verlor seine Arbeit in einer Sägerei, der er neben dem Studium nachging. So ging Kaminska erneut zum Entsendeunternehmen, das ihr den ersten Einsatz vermittelt hatte, legte ihre Unterlagen vor und reiste wenige Tage später abermals in die Schweiz.
Seither ist Karina eine sogenannte Care-Migrantin oder Pendelmigrantin. Die 53-Jährige stammt aus Pisz im Nordosten Polens, ist verwitwet und Mutter dreier erwachsener Kinder. Mehrmals pro Jahr reist sie von dort in die Schweiz, um hier Betagte an deren Wohnort rund um die Uhr zu pflegen. Die Einsätze dauern jeweils zwischen 3 und 13 Wochen und führten Kaminska bisher in sechs verschiedene Haushalte und vier verschiedene Schweizer Kantone.
2100 Franken für 24/7 auf Abruf
Die Bedingungen, die sie vorfinde, seien sehr unterschiedlich, am schwierigsten sei der Anfang im Haushalt einer dementen Dame gewesen, erinnert sie sich. Deren Sohn habe sie vor der Wohnungstür abgesetzt und sei verschwunden. «Die ersten zwei Tage hat sich das Matuchna (Mütterchen) im Schlafzimmer eingeschlossen, nur in der Nacht ist sie ins Badezimmer geschlichen. Ich habe in der Zwischenzeit aufgeräumt und geputzt, denn die Wohnung war ein einziges Chaos.» Mit der Zeit habe sie aber das Vertrauen der Frau gewinnen können und sie hätten viel zusammen gelacht. Und als Gedächtnistraining habe sie ihr sogar Rechenaufgaben gestellt.
Auf die Frage, ob sie für sich manchmal ausrechne, wie viel sie in den letzten Stunden verdient habe, schüttelt Kaminska nur den Kopf. «Wenn ich mir die Preise in der Migros ansehe, rechne ich schon manchmal», sagt sie. «Dann staune ich aber vor allem, wie viel die Schweizer verdienen müssen, um sich das alles leisten zu können.» Karina verdient für ihre uneingeschränkte Verfügbarkeit 2100 Franken pro Monat. Laut der Gruppe «Respekt», in der sich Care-MigrantInnen in Basel seit kurzer Zeit organisieren, liegt sie damit ungefähr im Durchschnitt. Verlässliche Zahlen zu den bezahlten Löhnen, ebenso wie zum tatsächlichen Umfang der Migrationsbewegungen, sind Mangelware.
Prekär an den Arbeitsbedingungen der PendelmigrantInnen ist jedoch nicht nur die für Schweizer Verhältnisse extrem tiefe Entlöhnung, sondern auch die fehlenden vertraglich zugesicherten Rechte der ArbeitnehmerInnen. Es fehlt sowohl ein klar definiertes Aufgaben- und Pflichtenheft, als auch verbindliche Reglungen zu Arbeits- und Ruhezeiten. Es existiert keine Sicherheit bezüglich Erwerb und Unterkunft (beispielsweise falls der oder die Betagte unerwartet verstirbt) und in den meisten Fällen so gut wie keine Privatsphäre oder Abgrenzungsmöglichkeit.
«Ich bin Mädchen für alles»
Spricht Karina von ihrem Alltag in der Schweiz, so zeigt sich, dass es vor allem diese Aspekte der Arbeit sind, die ihr zusetzen. Die soziale Isolation, die Anfeindungen der Betagten, die Ablehnung und Arroganz, die ihr anstelle von Wertschätzung entgegen gebracht wird. Sie erzählt von Anzüglichkeiten von männlichen Betagten, von der querschnittsgelähmten Frau, die sie zwei Monate lang konsequent mit «dumme Gans» ansprach, von den abfälligen Bemerkungen der Spitex-MitarbeiterInnen und von der Einsamkeit hier, unter der sie oft auch die Betagten leiden sehe. «Ich glaube, sehr viele von ihnen fühlen sich von der Familie vernachlässigt und verlassen. Und ich kann das verstehen», sagt sie. «In Polen pflegt man die Alten bei sich zu Hause. Bevor meine Mutter gestorben ist, habe ich sie in mein Bett gelegt, bin aufs Sofa umgezogen und habe sie fast ein Jahr lang gepflegt.»
Zum Schluss benutzt Kaminska einen Ausdruck für ihre Arbeit, den sie in der Schweiz schon kurz nach ihrer Ankunft zu hören bekam: «Ich bin hier eben das Mädchen für alles. Und niemand ist stolz darauf, mich geholt zu haben. Ich arbeite sozusagen im Schatten.» In diesem Schatten, in einem weitgehend rechtsfreien Arbeitsraum, bewegen sich in der Schweiz immer mehr Menschen, ob als Saisonniers, Care-Migrantinnen oder in anderen Tätigkeitsfeldern.
Nachdem mir Karina ein Foto ihres Sohnes gezeigt («Wäre er nicht etwas für dich?») und mich zum Abschied umarmt hat, eilt sie wieder an ihren Arbeitsplatz, wo in diesen Minuten ‹Rote Rosen› zu Ende geht. Zurück bleibt das Bild einer starken Frau, deren Lebensweg nicht mit roten Rosen gepflastert war, die sich aber entschieden wehrt, sich als Opfer zu sehen.
* Name möglicherweise geändert