Als tote Kühe im Rhein trieben

Im Mittelalter lohnte es sich nicht, Abfall zu produzieren. Heute werden Millionen ausgegeben, um ihn fachgerecht zu entsorgen.

Bild: ya.

Fertigpizza aus dem Plastik, Plastik in den Müll, Marke auf den Müllsack und Müllsack in den Container. Heute macht sich kaum ein Schaffhauser Gedanken, was mit seinem Abfall geschieht, ist er erst einmal produziert. Vor 500 Jahren sah das anders aus.

Abfall, wie wir ihn heute kennen, wurde praktisch keiner produziert. Güter waren teuer und schwer zu beschaffen. Der mittelalterliche Schaffhauser konnte es sich nicht leisten, etwas leichtfertig wegzuwerfen, er hat wiederverwertet, was immer er konnte. Das war Teil seines Überlebenskampfs, und Recycling wurde gar zum Wirtschaftszweig – ganz nach den Regeln des Marktes.

Altwalker kauften altes Tuch und bereiteten es neu auf, Flickschuster reparierten abgetragene Schuhe, Baumeister verwendeten Bauschutt für Aufschüttungen und Bodenverdichtungen und aus Asche wurde Lauge produziert, die man als Vorläufer des Waschmittels verwendete. Übrig blieben praktisch nur Fäkalien und Kadaver.

Latrinen und Ehgräben

Schon früh entwickelte sich in Schaffhausen ein differenziertes Versorgungssystem. Obwohl Schaffhausen erst ab dem 11. Jahrhundert einen Aufschwung zur bedeutenden Stadt zwischen Zürich, Basel und Konstanz erlebte, verlief der Achse Oberstadt/Fronwagplatz/Vordergasse entlang bereits ab dem 12. Jahrhundert die älteste mittelalterliche Wasserleitung der Schweiz.

Eine LATRINE IM HINTERHOF des Hauses zum Rüden aus dem 13./14. Jahrhundert. Sie fasste etwa 60 Kubikmeter.
Bild: © Kantonsarchäologie Schaffhausen

Aber auch die Entsorgung war schon früh geregelt. In der Altstadt konzentrierte sich diese mehrheitlich auf die Hinterhöfe. Dort gab es Latrinen für Exkremente und Sickergruben für Abwasser. Zuerst waren das einfache Holzkisten, später gemauerte Schächte. Das Kloster Allerheiligen verfügte bereits ab dem 11. Jahrhundert über eine gemauerte Latrine. Die dort entstandenen Klärgase haben ganze Mauern verbogen, wie heute noch im Kreuzgang zu sehen ist. Bereits die einfachen Gruben in gewöhnlichen Höfen fassten bis zu 20 Kubikmeter, jüngere, gemauerte Latrinen gar bis zu 50.

Während viele mittelalterliche Städte ein System von Ehgräben in den Gassen etablierten, durch welche die Exkremente in die Flüsse gespült wurden, war das in Schaffhausen nie vorgesehen. Die vielen Kanäle in der Altstadt dienten lediglich dem Abfluss von Abwasser, der Entwässerung von Dächern, Strassen und Brunnenüberläufen. Und doch wurde immer mal wieder ein Nachttopf auf die Strasse oder in den Hof gekippt, wo «ain grosser geschmack» entstand, wie Hans Oschwald Löw 1546 in einer Klage beanstandete. Bereits 1381 wurde eine Busse festgelegt für denjenigen, der aus einem Haus tagsüber jemanden mit Fäkalien «beschüttet». Auch Bau und Nutzung von Latrinen waren reglementiert.

Geächtete Abdecker

Einer der unappetitlichsten Berufe im Mittelalter war derjenige des Abdeckers. Dieser leerte die städtischen Latrinen, oft in tagelanger Arbeit. Und er war zuständig für die Beseitigung von Tierkadavern. In einer 1478 in Schaffhausen erlassenen Amtsordnung wird festgehalten, dass der Abdecker – auch «Wasenbläser» oder «Wasenblözer» genannt – von den Steuern befreit war. Das zeigt: Die Arbeit war unbeliebt und es liessen sich schwer Freiwillige für das Amt finden. Abdecker waren gesellschaftlich ausgegrenzt, nicht zuletzt wegen des Infektionsrisikos, dem sie sich täglich aussetzten. «Abdecker und Schinder sind Geschwisters Kinder», besagt ein historisches Sprichwort. Dennoch war die Arbeit des Abdeckers extrem wichtig, war er doch dafür verantwortlich, dass sich keine Seuchen ausbreiteten.

Ein Abdecker durfte entgegen den allgemeinen Ordnungen Kadaver aufschneiden, um festzustellen, woran die Tiere verendet waren. Er musste dann entscheiden, ob die Häute der Tiere zur Lederverarbeitung freigegeben werden durften. Infizierte Tiere musste er ausserhalb der Stadt begraben. Im frühen Mittelalter warf er sie teilweise auch einfach in den Rhein, wofür ihm beim Urwerf sogar ein Boot zur Verfügung stand.

Im 16. Jahrhundert merkten die Schaffhauser aber endgültig, dass sie den Rhein nicht unkontrolliert zur Abfallentsorgung nutzen können. Der Fluss spülte Abfall zwar weg, schwemmte aber auch wieder welchen an. 1541 baten die Schaffhauser die Diessenhofer und Steiner, doch bitte keine Kadaver mehr in den Rhein zu werfen.

Jahrhundertelang veränderte sich der Umgang mit Abfall nur marginal, man hielt bis ins 19. Jahrhundert mehrheitlich an der mittelalterlichen Praxis fest. Erst mit der Industrialisierung und dem rasanten Anstieg der Bevölkerung sah man sich gezwungen, neue Konzepte auszuarbeiten. Der Prozess ging jedoch schleichend voran, gerade im Umgang mit Gewässern. Wenn die Bäche zu stinken begannen, deckte man sie einfach zu – versteckte sie unter dem Boden.

Es waren die Fischer, die die Gefahren der Wasserverschmutzung früh erkannten. Sie erwirkten bereits Ende des 18. Jahrhunderts ein Gesetz, welches die Entsorgung von Fabrikabfällen einschränkte. Es bewirkte wenig, noch jahrzehntelang überliess man den Abfall dem nahen Fliessgewässer. Lange fehlte der politische Wille und das Fachwissen.

1957 wurde dann das erste Gewässerschutzgesetz auf Bundesebene erlassen, doch erst in den Sechzigerjahren kam der Bau einer modernen Kanalisation mit Kläranlagen richtig in Schwung. Gerade zum richtigen Zeitpunkt: Abwässer aus den Privathaushalten waren mit hohem Phosphorgehalt aus Waschmitteln belastet, hinzu kamen Pestizide, Nitrate sowie giftige Gülle aus der Landwirtschaft. Textil-, Papier- und Chemiefabriken sowie Gerbereien leiteten ihr Abwasser ebenfalls oft ungereinigt in die Gewässer. Kurz: Den Flüssen und Seen ging es dreckig. Schäumende Bäche, überdüngte Seen sowie Fischsterben waren sichtbare Folgen. Und auch das Grundwasser war vielerorts belastet: So berichteten etwa 1962 auf dem Reiat stationierte Soldaten, ihr Wasser für Suppe und Kaffee stinke stark nach Jauche. Kein Wunder: Das Abwasser der Gemeinde Merishausen und auf den Wiesen ausgebrachte Gülle versickerten im Boden und fanden den Weg ins Grundwasser.

1969 nahm schliesslich die Kläranlage Röti beim Rheinfall ihren Betrieb auf und brachte rasche Erfolge. Etwa bei der Phosphatbekämpfung 1973. Und sie förderte interessante Erkenntnisse zum Waschverhalten zu Tage: «Die Frauen (…) waschen am Dienstag. Galt bislang der Montag als der seit erdenklichen Zeiten geliebteste Waschtag, so muss dies (…) korrigiert werden», schrieben die Schaffhauser Nachrichten. Am Phosphatgehalt im Abwasser konnte nachgewiesen werden, an welchem Wochentag die grössten Portionen Waschmittel ins Wasser gegeben wurden.

Bis man Algenblüten, die auftretende Verkrautung und Schaumbildung im Rhein im Griff hatte, dauerte es jedoch länger. Nach der Phosphatbekämpfung war die Reduktion des Nitratgehalts ein entscheidender Schritt. Mechanische, biologische und chemische Reinigungsstufen – eine Kläranlage ist hochkomplex und wird stetig  weiterentwickelt.

Einst wild entsorgt, heute nachhaltig verbrannt

Die Entsorgung von festem Abfall gestaltete sich etwas simpler: Als immer grössere Mengen Abfall anfielen, begannen private Fuhrunternehmen die Kehrichtabfuhr in der Stadt Schaffhausen aufzugleisen. Den Kehricht luden sie ab, wo sie Platz fanden. 1962 übernahm die Stadt die Kehrichtabfuhr und erste Müllwagen wurden angeschafft. 1973 wurde die KBA Hard eingeweiht. Fortan verarbeitete sie Schwarzkehricht, Grünabfälle, Sperrgut und Tierkadaver. Auch diese Anlage wurde mehrmals nachgerüstet und umgebaut; die jüngste Sanierung ist – mit erheblichen Verzögerungen und Kostenüberschreitungen – noch immer im Gang.

Die Schaffhauser Kehrichtverbrennungsanlage KBA HARD.
Bild: © Peter Pfister

In den letzten 50 Jahren wurden unzählige Stoffe verboten, Entsorgungsverfahren verfeinert und Spezialmülltrennungen eingeführt – etwa für Farben, Pestizide, Batterien. Heute gilt die Schweiz gar als «Recyclingweltmeister». Laut Bundesamt für Umwelt werden bereits mehr als die Hälfte der Siedlungsabfälle separat gesammelt und entsorgt. Das Altpapier wandert zurück in die Papierfabriken, PET-Flaschen werden zu neuen PET-Flaschen und anderen Produkten, Aluminium wird eingeschmolzen. Und Abwärme aus Produktions- und Verbrennungsprozessen heizt immer öfters nicht einfach die Atmosphäre, sondern Haus und Hof, teilweise ganze Gemeinden.

Nachhaltigkeit heisst das Stichwort der letzten zwanzig Jahre, nicht zuletzt in der Abfallfrage. Doch Umweltexperten meinen dennoch: Wir machen viel zu wenig. Der Schaffhauser Stadtökologe Urs Capaul mahnt zudem: «Die Abfallfrage ist mit der Energiefrage untrennbar verbunden.» Für ihn ist es beispielsweise unverantwortbar, dass immer noch rund ein Drittel der Lebensmittel im Müll landet. Grundsätzlich solle man darauf achten, gar nicht erst so viel Abfall zu produzieren, anstatt nur die Entsorgung weiter zu verbessern. Der mittelalterliche Mensch wäre demzufolge ein gutes Vorbild.