Zahlreiche, einst offene Abfalldeponien sind längst zugeschüttet und in Vergessenheit geraten.
Sie sind noch im kollektiven Gedächtnis vorhanden, der jüngeren Generation aber höchstens als Abenteuerspielplatz ein Begriff: Offene Abfalldeponien, wie sie über Jahrzehnte an zahlreichen Standorten im ganzen Kanton genutzt wurden.
Ratlose Gesichter also bei den Jüngeren, Zeitzeugen reagieren ähnlich. Das verwundert kaum, scheint doch die Abfallentsorgung ein unangenehmes und nicht gerade für tiefgründige Gedanken prädestiniertes Gebiet. «Es ist ein schwieriges Thema», sagt auch Ernst Gysel, als er am Küchentisch seines stattlichen Bauernhauses im Wilchinger Dorfkern Anekdoten aus seinem Berufsleben und seiner Zeit als Gemeinderat schildert.
Der 84-jährige Landwirt hatte in den Fünfzigern als LKW-Fahrer gearbeitet und viele Deponien auf Gemeindegebiet eigenhändig zugeschüttet. Er erzählt von ganzen Rattenkolonien – als Nebenwirkung der organischen Abfälle, die in den Gruben lagen – denen damit der Garaus gemacht wurde. An anderen Orten, etwa in Rüdlingen, wurden abschüssige Halden am Rheinufer als Deponien genutzt. Der eine oder andere beherzte Schwung beförderte manchmal den Abfall auch direkt in den Fluss.
Tatsächlich ist aus heutiger Sicht schwer zu fassen, was früher schnöder Alltag war. Heute ist buchstäblich Gras über die Sache gewachsen, und die ehemalige Funktion der Standorte lässt sich da und dort höchstens noch erahnen. Die Dimensionen der Deponie im «Stuehl» in Wilchingen allerdings sind klar zu erkennen. Ernst Gysel erinnert sich: «Früher wurde dort Sand und Kies abgebaut, die Grube war dementsprechend mehrere Meter tief.»
Über die genaue Art des Abfalls kann er nur mutmassen, meint aber: «Früher kam der Dorfweibel mit dem ‹Schärbewage›, sammelte die Abfälle ein und brachte sie zur Deponie. Mitgenommen wurde alles.» Kraut und Rüben also. Angesichts solcher Aussagen möchte man den Abfall am liebsten aus dem Boden geholt wissen. Doch wie steht es wirklich um das vergessene Material im Untergrund?
Den Weg in die Illegalität fanden die offenen Deponien 1991 mit der Einführung der technischen Verordnung über Abfall, welche ein vom Kanton entwickeltes Entsorgungssystem vorschrieb. Für so manchen sei die Umstellung anfangs wohl gewöhnungsbedürftig gewesen, meint Ernst Gysel und erwähnt wild deponierte Abfallsäcke, die er damals auf seinem Feld am Dorfausgang entdeckt hatte. Der Übeltäter war schnell ermittelt, man einigte sich im Guten und der Vorfall wiederholte sich nicht.
Um die unter den Erdmassen schlummernden Abfälle kümmerte sich die 1998 erlassene Altlastenverordnung. Ihr zufolge hatte jeder Kanton einen «Kataster der belasteten Standorte» zu erstellen. Aus der Befragung von Zeitzeugen und allen relevanten Gewerbebetrieben im Kanton Schaffhausen resultierte eine online verfügbare Karte mit rund 250 Einträgen, die laufend erweitert wird, weil alle Standorte noch gar nicht bekannt sind. «Wir sprechen deshalb immer vom aktuellen Stand des Wissens», erklärt Raffael Fehlmann, Fachbereichsleiter für Bodenschutz und Altlasten beim Interkantonalen Labor. Nicht alle davon sind alte Deponien, auch Industriestandorte, Tankstellen sowie Schiessanlagen sind verzeichnet.
In vielen Fällen war keine genaue Untersuchung nötig, um eine direkte Gefahr für Mensch und Umwelt ausschliessen zu können. Wird allerdings eine Gefahr vermutet, wird der Sache natürlich nachgegangen. Ob dies durch Untersuchungen oder Überwachung beispielsweise des Grundwassers geschieht, ist von Fall zu Fall verschieden.
Geringe Umweltbelastung
Manchmal fördert der Bagger unverhofft belastetes Material zutage. Das seien dann die besonders schwierigen Fälle, sagt Fehlmann: «Sie sind mit hohen Zusatzkosten verbunden, weil der Aushub nicht mehr normal entsorgt werden kann.» Gerade sie demonstrieren die Notwendigkeit des Katasters: «Er ist ein kollektives Gedächtnis und zeigt, was bei künftigen Grabungen zu erwarten ist.» Dies sei eigentlich auch schon alles, was der Kataster leisten soll.
Die meisten Standorte werden deshalb so belassen, wie sie sind. Von der Öffentlichkeit unbeachtet, behält sie immerhin das Interkantonale Labor im Auge. Es ist sehr darauf bedacht, das Thema in den Köpfen der Bevölkerung nicht zu verteufeln. Aus gutem Grund, wie Fehlmann erläutert: «Die Dekontaminierung der Standorte wäre nur eine Verschiebung des Abfalls, ohne Nutzen für die Umwelt.» Das Interkantonale Labor legt ausserdem grossen Wert auf die Bebauung solcher Parzellen, weil der Untergrund sowieso schon «beschädigt» sei und die Überbauungen oft zu einer Versiegelung der Flächen führen. Dies leuchtet tatsächlich weit mehr ein, als eine grüne Wiese zu überbauen.
Leider sehen das viele Bauherren anders und bevorzugen «saubere» Parzellen. Der Katastereintrag ist ihnen ein Dorn im Auge. Erweist sich ein Standort als belastet, betreiben sie einen hohen Aufwand, um das unliebsame Material aus dem Boden zu holen, obwohl meistens keine direkte Gefahr besteht. Trotzdem ist die Problematik der Deponien natürlich keineswegs vom Tisch zu wischen. Es gefalle ihm auch nicht, was da immer wieder zum Vorschein komme, sagt Fehlmann. Auch die nicht akut gefährlichen Standorte seien eine Belastung. «Wenn sie aber schon da sind, dann müssen wir wohl oder übel damit leben. Weggezaubert werden können sie nicht.»
Auch Ernst Gysel bricht nicht in Begeisterungsstürme aus, wenn er seine Erinnerungen an die Zeit vor der «Generation KBA Hard» schildert. Die damals produzierten Abfallmengen seien zwar geringer gewesen als heute, und viele Haushalte hätten ihre Abfälle weitgehend selber verwerten können. Papier (und später auch Plastik) wurde verbrannt. Und dennoch, alles andere landete im Untergrund. Konsequenzen für die Umwelt hätten die Deponien seines Wissens nie gehabt: «Nach dem Zudecken hatte man zwar keine Kontrolle mehr über die Abfälle, wäre aber etwas durchgesickert, hätte man es schnell gesehen.» Ausserdem liege unter den meisten Gruben eine den Boden versiegelnde Lehmschicht. Kritisch seien höchstens alte Öltonnen mit unbestimmtem Inhalt, die durchrosten könnten.
Zu Ballen gepresst und verbrannt
Die Spurensuche in der Vergangenheit führt unweigerlich zu der Frage nach dem Status Quo. Wir haben das Glück, ein modernes Entsorgungssystem nutzen zu können und müssen uns dabei nicht einmal die Hände schmutzig machen. Wo früher die Abfalldeponien sicht- und riechbar in Dorfnähe vor sich hin faulten, entschwindet heute alles, dessen wir uns entledigen wollen, im Schlund der Müllabfuhr und damit aus unseren Gedanken. Doch wohin eigentlich?
Ein kleiner Abriss: Nachdem der Schwarzabfall in der Beringer KBA Hard vorsortiert, geschreddert und zu Ballen gepresst wurde, wird er in der Kehrichtsverbrennungsanlage Buchs verbrannt. Alle nicht brennbaren Stoffe bleiben als Schlacke zurück, diese wird in der Multikomponentendeponie Pflumm in Gächlingen eingelagert. Sie enthält Stoffe, die chemisch oder biologisch nicht stabil sind und erst abgebaut werden müssen. Regenwasser durchsickert die Deponie, wird aufgefangen und aufbereitet, danach in den Bach geleitet.
Das Wasser ist freilich keine Giftbrühe, trotzdem werden lösliche und vielleicht schädliche Stoffe nach und nach ausgewaschen. Der Schlackeberg in Gächlingen wächst unterdessen stetig an. Natürlich ist die Entsorgung heute auf dem neuesten Stand der Technik, gerade was Recycling betrifft. Hier wäre aber noch viel mehr möglich. Was scheinbar fehlt und im Abfalleimer unter dem Spülbecken beginnt, ist das öffentliche Bewusstsein das Thema und der Wille, noch besser zu trennen.
Angesichts der heutigen globalen Abfallproblematik erscheinen unsere kleinen Deponien schon beinahe harmlos. Doch obwohl seit Jahrzehnten verschlossen, sind sie für die Betroffenen ein unangenehmes Kapitel, das bis in die Gegenwart nachwirkt. Die Frage nach Schuld oder Verantwortung scheint dennoch irrelevant. Gysel macht deutlich: «Man hat getan, was man konnte. Schlussendlich gab es aber schlichtweg keine andere Möglichkeit.»