«Es hapert bei der Verteilung»

Soziologieprofessor Ueli Mäder sehnt sich nach einem friedlichen Systemwechsel. Gespräche mit Jungen, aber auch mit Reichen, geben ihm Hoffnung.

Ueli Mäder ist ORDINARIUS FÜR SOZIOLOGIE an der Universität Basel und Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Bild: Adrian Ackermann

Ueli Mäder, Geld war einmal nur ein Hilfsmittel, das den Austausch von Gütern vereinfachte. Heute dreht sich vieles um das Geld an sich. Das Streben nach Reichtum scheint für breite Teile unserer Gesellschaft zur obersten Maxime geworden zu sein. Was ist geschehen?

Ueli Mäder Der Selbstzweck des Geldes beginnt schon mit dem Ausleihen von Geld. Und mit dem Zins. Er macht aus Geld mehr Geld. Im Neoliberalismus nimmt dieser Selbstzweck überhand. Ich meine, dass dies besonders seit der Auflösung des Ost-West-Gegensatzes der Fall ist.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigte den Siegeszug des Kapitalismus?

Das Aufbrechen der Berliner Mauer war in vielerlei Hinsicht erfreulich. Doch seither dringt das Geld immer offensiver in jene Bereiche vor, wo es sich optimal verwerten lässt. Heute bestimmt scheinbar der Markt, wie viel die Arbeit Wert ist. Und wenn der Markt uns sagt, dass das Geld doppelt so viel Wert sei wie die Arbeit, dann sei das eben so. Das finanzielle Verständnis überlagert das politisch liberale, das einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit suchte. Da herrscht eine neue Gläubigkeit.

Geld wird mehr und mehr zu Gott. Das hat der deutsche Soziologe Georg Simmel bereits um 1’900 so formuliert. Geld, so Simmel, durchdringe alles, es habe sich zum Selbstzweck aufgeschwungen. Trotzdem hat der Kapitalismus den Menschen doch auch vor allem Freiheit gebracht?

Ja, der Kapitalismus sprengte feudale Grenzen. Und die Individualisierung brach enge soziale Kontrollen und erzwungene Geborgenheit auf. Gerade Junge suchten ihre Freiheit mehr in der Anonymität. Heute ist es allerdings in der erstrebten Coolness vielen allzu cool geworden. Vielleicht nimmt damit das Bedürfnis nach sozialer Verbindlichkeit zu. Und zwar aus freien Stücken, nicht einfach aus Angst.

Sie beobachten eine Abkehr vom Individualismus. Woran?

Ueli Mäder Es gibt Anzeichen für einen Wandel. Bei Studien mit sozial Benachteiligten etwa haben wir festgestellt, dass die Bereitschaft, alles auf den eigenen Schultern zu tragen, abnimmt. Früher hat man gesagt: Ich bin selbst schuld, dass ich nicht so viel verdiene. Ich hätte in der Schule mehr leisten müssen. Heute sehen die Leute vermehrt die sozialen Ungleichheiten. Das macht sie wütend. Von daher verkehrt sich eine gewisse Resignation in die Richtung einer Empörung. Das kann zu einer neuen Kraft werden, lässt sich aber auch populistisch vereinnahmen. Auch bei meinen Gesprächen mit den Reichen erlebe ich, nebst viel Irritierendem, auch Erfreuliches: Manche hinter-fragen sich durchaus, sagen, dass wir wieder bescheidener werden und zurückbuchstabieren müssen. Sie haben Angst, dass der Arbeitsfrieden zusammenbricht und damit der gesellschaftliche Zusammenhalt. Allerdings möchte ich eine soziale Existenzsicherung nicht vom Goodwill von Begüterten abhängig machen. Auch die Jugend sollte man auf keinen Fall abschreiben. Bei jungen Menschen spüre ich oft Skepsis an der steten Beschleunigung. Sie befürchten – soziologisch formuliert –, dass so angstbesetzt die funktionalistische Effizienz permanent gesteigert wird. Ich spüre ein Bedürfnis nach mehr Sinn. Sie fragen sich: Was soll das alles? Für mich gibt es also Grund zum Optimismus. Der Konsumrausch scheint nicht unaufhaltsam.

Hilft einem DAS STUDIUM VON KÜHEN vielleicht, die Reichen besser zu verstehen? Wir wissen es nicht.

Neben der Sinnfrage scheinen viele vor allem Angst zu haben. Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg. Dies zeigte sich etwa bei der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Haben Sie Verständnis dafür?

Insgesamt geht es uns immer noch sehr gut, doch etliche Menschen erleben tatsächlich einen Abstieg. Sie arbeiten viel und verdienen wenig. Früher reichte ein Einkommen für eine vierköpfige Familie. Das ist heute oft nicht mehr der Fall. Es hapert bei der Verteilung, obwohl der Reichtum stark zugenommen hat. Andererseits ist im Zusammenhang mit der Abstimmung über die so gennante Masseneinwanderung interessant, dass die Kampagne der Wirtschaftsverbände und Avenir Suisse sehr stark auf die wirtschaftlichen Privilegien und Vorzüge ausgerichtet war. Das hat viele Menschen offen-­ bar nicht erreicht. Man muss sich also fragen: Deutet dies nicht trotz aller Widersprüchlichkeit darauf hin, dass vielen eben doch auch andere Aspekte wichtiger sind als nur die Optimierung der eigenen ökonomischen Privilegien? Ich sage das auch den Gewerkschaften immer wieder. Man muss die Menschen dort abholen, wo sie der Schuh drückt. Das ist nicht einfach das Materielle oder nur die Angst vor dem Abstieg; es braucht eine Perspektive, eine Sinnhaftigkeit. Von daher: Es gibt die Angst, aber es schwingt Anderes mit. Unsere Eltern waren überzeugt, dass es ihren Kindern einmal besser gehen würde. Heute glauben viele nicht mehr daran. Es braucht eine umfassendere Perspektive.

Also eine gesellschaftliche Vision?

Ueli Mäder Ja, eine lebendige Gesellschaft, eine freiheitliche Gesellschaft, soziale Beziehungen, eine intakte Umwelt, mehr demokratische Mitbestimmung und Teilhabe. Ich sage jungen Menschen immer: Machen Sie das, was Ihnen Freude macht, machen Sie das, was Sie gerne machen. Das ist eine viel grössere Motivation als nur etwas zu machen, weil man sich eine ökonomische Sicherheit oder Besserstellung davon verspricht. Ich bin überzeugt, die Studierenden, die bei uns Soziologie studieren, weil sie die Materie fasziniert, haben eine bessere Perspektive als jene, die BWL oder Recht studieren, obwohl sie dies gar nicht wirklich interessiert.

Mäder forscht über die finanzelle Elite, zeigt auf, wie die Vermögenden und Mächtigen denken und lenken. Etwa in: «REICHE IN DER SCHWEIZ» (Rotpunktverlag 2010).

Was halten Sie von der Vision von einem bedingungslosen Grundeinkommen, wie sie eine kürzlich eingereichte Initiative fordert? Ein Schritt in die richtige Richtung?

Ich freue mich sehr auf die Debatte. Darauf, dass man sich mit der sozialen Grundsicherung auseinandersetzt, Sinnund Bedeutung von Arbeit diskutiert und sich fragt: Was ist wie viel wert? Das hat etwas sehr Bereicherndes. Auf der Sachebene sehe ich Fragezeichen: Was ist, wenn die Löhne unten bleiben, die Preise steigen und die öffentliche Hand die stetig wachsende Lücke berappen muss? Mein Vorschlag: Das Ausweiten der Ergänzungsleistungen auf alle Haushalte mit zu wenig Einkommen. Das wäre ebenfalls eine klare Festigung der Grundsicherung, ohne Gefahr zu laufen, das jetzige System der sozialen Sicherung zu unterlaufen.

Die Ungleichheiten werden grösser. Sie sprachen bereits davon, dass sich die Empörung darüber in eine neue Kraft verwandeln könnte. In der Finanzkrise war die Empörung über die Banker und die Finanzwirtschaft riesig und Occupy eine Reaktion darauf. Doch die Bewegung erreichte die Massen nicht.

Occupy lebte schon, zumindest kurz. In Tel Aviv erlebte ich 300’000 Demonstrierende. Und in der Schweiz berichtete mir ein renommierter Bürgerlicher, wie er, wirklich bewegt und beeindruckt, ein halbes Jahr mitzog. Aber der Aufbruch führte kaum weiter. Etliche Aktive treffen sich allerdings weiterhin. Sie konzentrieren sich nun mehr auf politische Analysen. Das ist ebenfalls wichtig. Denn jeder Schritt ist ein Schritt. Auch der von Jugendlichen, die Stadtgärten anlegen, etwa in Basel im Hafenareal. Die machen etwas Konkretes im Kleinen. Auch das hat für mich einen hohen politischen Wert.

Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Zuversicht?

Vielleicht gerade aus dem vordergründig Unscheinbaren, aus einfachem menschlichem Handeln. Da ist etwa der Hotelier, der nie von Ökologie spricht und doch alles dafür macht, die Umwelt zu schützen. Da ist die Solidarität von Jugendlichen mit den Sans-Papiers in Basel. Oder erinnern wir uns an den Zweiten Weltkrieg: Die meisten Juden versteckt und beschützt haben einfache, vielleicht eher unscheinbare Leute. Wir Menschen realisieren zum Glück immer wieder, dass wir gar nicht funktionieren könnten, wenn wir nicht andere Menschen hätten. Unsere Gesellschaft würde zusammenbrechen, wenn es nicht so viele Leute gäbe, die sich sehr sozial verhalten. Und doch leben wir in einer Welt, in der sich die Konkurrenzmechanismen verschärfen. In der man zwar sagt, seid nett und angepasst. In der man jedoch, wenn man nicht den Ellbogen ausfährt, rasch eine Zwei auf dem Rücken hat. Und je enger es gerade beruflich wird, desto mehr können selbst gute Arbeitskollegen zu einer Bedrohung werden. Die forcierte Konkurrenz ist sicher ein grundlegender Mechanismus in einem derart kapitalistischen System, das die Solidarität unterläuft. Wir brauchen einen Systemwechsel. Weg von der kapitalistischen Geldgläubigkeit. Jedoch möglichst friedlich.