«Wir fordern nur unser Recht ein»

Ein Bundesgerichtsentscheid von 2003 verpflichtet die Kantone dazu, Plätze für die Jenischen zur Verfügung zu stellen. Doch mit der Umsetzung hapert es gewaltig. Schaffhausen hat bis heute keine Lösung parat.

Der ORISCHE DURCHGANGSPLATZ beim Langriet.

Das Wetter ist wechselhaft an diesem Mittwoch, dem 14. Mai. Zwischendurch regnet es, eine kühle Brise weht im Neuhauser Langriet. Die Temperaturen laden nicht gerade dazu ein, im Freien unter einer Plane auf einem Plastikstuhl zu verweilen und die frische Luft zu geniessen.

Reto Moser, Aktuar und Vorstandsmitglied der Bewegung Schweizer Reisenden, macht das nichts aus. Er verkriecht sich bei diesen Bedingungen nicht in einer warmen Stube. Er zieht den grossen Teil des Jahres mit seinem Wohnwagen durch die Schweiz, wie viele andere Jenische.

Reto Moser hat extra früher aufgehört zu arbeiten, um sich mit den Gemeindepräsidenten von Neuhausen und Beringen, Stephan Rawyler und Hansruedi Schuler, beim Verkehrsgarten zu treffen. Eine Woche zuvor hatte er hier seine temporäre Wohnstätte aufgebaut. Zum Zeitpunkt des Treffens mit den zwei Gemeindepräsidenten lebten noch sieben weitere Familien vor Ort. Bis zum 21. Mai durften sie bleiben.

Dass die Gruppe zwei Wochen in Neuhausen leben konnte, ist eine Ausnahme. Lange Zeit haben die Jenischen den Kanton Schaffhausen nämlich gemieden. Nicht weil sie wollten, sondern weil hier keinen Durchgangsplatz für sie gibt. Dabei wäre der Kanton dazu verpflichtet, der Minderheit einen Platz zur Verfügung zu stellen.

Die Kantone sind in der Pflicht

Die Jenischen sind in der Schweiz offiziell als nationale Minderheit anerkannt, sie sind Schweizer Bürgerinnen und Bürger, leisten hier Militärdienst, zahlen Steuern. Trotz internationaler Verpflichtungen lässt die Schweiz das Volk aber bisher vielerorts im Regen stehen.

Wir blenden zurück: Am 1. Februar 1999 war das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten in Kraft getreten. Darin anerkennt die Schweiz die Fahrenden als nationale Minderheit und verpflichtet sich «die Bedingungen zu fördern, die es Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe, zu bewahren.» (Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Art. 5, Abs. 1)

Am 28. März 2003 fällte das Bundesgericht einen Grundsatzentscheid über die Rechte der Jenischen in der Schweiz. Er lautet wie folgt: «Die Nutzungsplanung muss Zonen und geeignete Plätze vorsehen, die für den Aufenthalt von Schweizer Fahrenden geeignet sind und deren traditioneller Lebensweise entsprechen (…)». Weil die Raumplanung eine Kompetenz der Kantone ist, wird damit auch Schaffhausen in die Pflicht genommen.

Schaffhausen: Zero Plätze

Warum gibt es heute – elf Jahre nach dem Bundesgerichtsentscheid – im Kanton Schaffhausen keinen festen Platz für die Jenischen? Hat der Kanton überhaupt jemals Anstrengungen vorgenommen, um seinen Verpflichtungen nachzukommen? Tatsächlich schien sich lange Zeit niemand darum zu kümmern. Erst im Jahre 2012 unternahm der Kanton erste Bemühungen, den Verpflichtungen nachzukommen. Susanne Gatti, Dienststellenleiterin des Planungs- und Naturschutzamtes, erklärt: «Wir sind im Rahmen der Richtplanerarbeitung 2012 mit der Stiftung ‚Zukunft für Schweizer Fahrende‘ in Kontakt getreten. Gemäss deren Standbericht 2010 fehlt im Kanton Schaffhausen ein Durchgangsplatz mit 10 Stellplätzen.» Ob und wo es früher solche Plätze gab, ist den Behörden unbekannt: «Wir führen keine Übersicht über aufgehobene Durchgangsplätze in Schaffhausen».

Zumindest in Neuhausen ist man in dieser Angelegenheit besser infomiert. Stefan Rawyler: «Bis vor wenigen Jahren konnte die Gemeinde den Platz oberhalb der ‚Chiesgrueb‘ zur Verfügung stellen. Als ständiger Durchgangsplatz hätte sich dieser aber nicht geeignet. Zudem wird der Platz in den letzten Jahren für andere Zwecke regelmässig genutzt, so dass er auch für einen kurzfristigen Aufenthalt von Fahrenden nicht mehr zur Verfügung steht.» Auch in Zukunft sei kein ständiger Durchgangsplatz möglich, weil Neuhausen flächenmässig keine grosse Gemeinde sei. Neuhausen stellt den Jenischen aber für dieses Jahr immerhin zweimal provisorisch den Verkehrsgarten zur Verfügung. Reto Moser sieht jedoch nicht ein, warum der «Chiesgrueb»-Platz nicht genutzt werden kann: «Der Platz steht leer. Es stehen lediglich zwei grosse Container darauf.»

Ein Platz in Beringen?

Zurück ins Langriet. Reto Moser zeigt den Herren das Camp. Der Beringer Gemeindepräsident Hansruedi Schuler hat Verständnis für die Jenischen und prüft mögliche Standorte in seiner Gemeinde. Erste Gespräche zwischen Beringen, dem Kanton und der Bewegung der Schweizer Reisenden haben bereits stattgefunden: «Dabei ging es um grundsätzliche Abklärungen, ob ein Platz für die Schweizer Fahrenden gefunden werden könnte. Es wurden auch mögliche Gebiete angeschaut, konkrete Standorte sind jedoch noch nicht definiert worden. Im Moment sind die kantonalen Stellen daran, zu prüfen wie es konkret weiter gehen könnte». Nach rund zwanzig Minuten ziehen beide wieder ab.

Reto Moser setzt sich an den Tisch auf seinem Vorplatz und erklärt dem Lappi-Journalisten die missliche Lage. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund: «Offiziell gibt es hierzulande 43 Plätze, wo wir unsere Wohnwagen abstellen können. Aber diese Zahlen entsprechen nicht der Realität. Viele Plätze, die aufgeführt werden, verfügen über keine genügende Infrastruktur» Dabei sind die Anforderungen gering. «Wir benötigen lediglich Wasser, Strom und eine sanitäre Anlage. Zudem sollte ein Platz schon über die Grösse verfügen, dass man sicher 10 bis 15 Wohnwagen abstellen kann. Schweizweit gibt es weniger als 20 solcher Plätze. Das heisst, dass die publizierte Liste nicht den Tatsachen entspricht und somit der Bevölkerung falsche Zahlen vorgegaukelt werden. Diese falschen Aussagen erschweren unsere Bemühungen für zusätzliche Plätze.»

«Von Grund auf aufklären»

Ob der Kanton mit dem nötigen Nachdruck auf die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags pocht, den Jenischen einen Platz zu bieten, wenn sich alle Gemeinden zurückhalten, ist fraglich. Susanne Gatti sagt: «Die von uns ins Auge gefassten Standorte sind aus verschiedenen Gründen nicht in Frage gekommen.»

Auch ob in Beringen dereinst ein Durchgangsplatz eingerichtet wird, steht in den Sternen. «Wir machen uns keine Illusionen, es ist ein langer Weg», sagt Reto Moser. Wenn für einen Platz die Raumplanungszonen geändert werden müssen, könnte es sogar zu einer Volksabstimmung kommen. So geschehen am 18. Mai im sanktgallischen Thal. Anwohner ergriffen das Referendum gegen den geplanten Platz. Am Schluss machten 127 Stimmen den Unterschied. 52,8 Prozent der Stimmbevölkerung sagten nein. Es ist nur eines von wenigen Beispielen, das die Ablehnung zeigt, mit der die Bevölkerung den Jenischen begegnet.

Für Reto Moser ist deshalb klar: «Wir müssen die Schweizer nicht sensibilisieren, wir müssen sie von Grund auf aufklären. Es herrscht Nichtwissen par excellence, durch sämtliche Bevölkerungsschichten.»

Auf die Missachtung ihrer Rechte haben die Jenischen im April mit einer Demonstration auf der Kleinen Allmend in Bern hingewiesen, bis die Berner Polizei der Besetzung ein unsanftes Ende setzte. Marco Graf, Vizepräsident der Bewegung, hat sich mittlerweile zu uns gesetzt. Er erklärt: «Die Aktion war ein Hilfeschrei.» Und Reto Moser ergänzt: «Ja, es war nie unsere Absicht, die Vorschlaghammer-Methode zu ergreifen, aber es war jetzt einfach notwendig, um politischen Druck aufzubauen, sonst passiert gar nichts. Wir warten bereits zu lange auf Lösungen.» Beide ziehen sie ein durchwegs positives Fazit nach der Besetzung. Auf einen Schlag wurden den Jenischen in der Schweiz drei zusätzliche Plätze zur Verfügung gestellt. Genug ist das aber noch lange nicht.