Célines Kampf ist nicht zu Ende

Die Lungenembolie der 23-jährigen Schaffhauserin Céline Pfleger liegt an der hormonellen Verhütung, sagt die Familie der heute Schwerstbehinderten. Der Pharmakonzern Bayer bestreitet dies – und gewann bisher alle Gerichtsverhandlungen.

Céline Pfleger erhält Besuch von ihrer Schwester Jennifer (links). Céline bewohnt EIN ZIMMER IM LINDLI-HUUS.

Es sind immer die gleichen Bilder. Links: eine Jugendliche, dezent geschminkt und nett lächelnd. Rechts: Dieselbe junge Frau, gut sichtbar schwer behindert. «Pillen-Drama», titelt der Blick. Von «zerstörten Träumen» spricht die Schweizer Illustrierte. «Bittere Pille», kalauert der Beobachter. Fernsehsender, Gratisblätter und Magazine der ganzen Deutschschweiz berichten 2008 vom Vorfall, der sich bei der Schaffhauserin Céline Pfleger ereignet hat: Die damals 16-Jährige erleidet eine Lungenembolie und einen Herzstillstand und wird dadurch schwerstbehindert.

Ihre Mutter Claudia Pfleger geht davon aus, dass ein direkter Zusammenhang zur Antibabypille besteht, die Céline nur Wochen vor der Embolie zum ersten Mal eingenommen hat. Es beginnt eine Odyssee durch Spitäler und Kliniken, aber auch durch Gerichte und Medien. «Mein ganzes Leben dreht sich nur noch um diesen Fall», sagt Claudia Pfleger heute und ergänzt: «Ich bringe dies hier zu Ende. Ich tue es für Céline, denn sie ist auch eine Kämpferin.»

Nie wieder wie vorher

Der Kampf begann im Februar 2008. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, Céline steht auf und geht ins Bad. «Mir ist schlecht», hört Claudia sie sagen; die 16-Jährige legt ihre Nachtzahnspange hin, wird plötzlich kreidebleich und fällt zu Boden. Claudia ruft sofort die Ambulanz, der Partner der Mutter reanimiert die ohnmächtige Céline, die ins Kantonsspital Schaffhausen gebracht wird. Dort wird schnell klar: Céline hat eine beidseitige schwere Lungenembolie erlitten. Nach mehrfachen Herzstillständen kann sie jeweils wieder reanimiert werden. Danach versetzen sie die ÄrztInnen in ein künstliches Koma, damit sich Hirn und Körper von den Strapazen erholen können. Dreieinhalb Monate bleibt die junge Frau in diesem Zustand. Bei Untersuchungen an ihrem Gehirn wird langsam klar, dass Céline nie wieder werden kann wie vorher.

Vom Spital erhält Claudia Pfleger derweil ein Schreiben, dass die Embolie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit von der Pille ausgelöst wurde. Schliesslich gab es keinerlei Vorzeichen, und da Céline weder rauchte noch übergewichtig und dazu sehr jung war, galt sie auch nicht anderweitig als gefährdet. Der Hausarzt bestätigt dies. Aufgrund dieser Infos wendet sich Claudia Pfleger an einen Anwalt der Patienten- und Unfallopferstelle in Zürich. Dieser nimmt Kontakt auf mit dem Pharmakonzern Bayer, der Célines Antibabypille vertreibt.

Bayer lenkt ein, 200 000 Franken zu zahlen, die die erste Rehabilitation in Gailingen kostet, wo Céline während mehrerer Monate unterkommt. Célines Mutter hat dieses Geld nicht erhalten, da es direkt an die Klinik bezahlt wurde – als klar wird, dass der Fall sich in die Länge ziehen könnte, ist der Konzern aber nicht mehr zahlungswillig. Bayer fordert Claudia Pfleger auf, einen Vertrag zu unterschreiben. Sie soll mit der Geschichte nicht an die Öffentlichkeit gehen. Claudia Pfleger willigt nicht ein. Und geht mit dem Fall an die Öffentlichkeit.

Vorwürfe von allen Seiten

Die Erfahrungen, die Claudia Pfleger seither mit den Medien gemacht hat, waren teilweise schwierig. Zu oft seien ihr die Worte im Mund umgedreht worden. «Der Blick zum Beispiel stand eines Tages einfach vor meiner Haustüre, unangemeldet. Damals war ich noch unerfahren und machte mit.» Schlagworte wie Pillendrama und Schicksal zieren die Medienberichte, Vorwürfe von allen Seiten sind eine Folge.

Céline Pfleger FEIERT IHREN 23. GEBURTSTAG im Lindli-Huus im Kreise von Familie und FreundInnen.

Claudia erzählt lang von den Unterstellungen, die sie sich von Mitmenschen anhören musste und muss: Sie wolle ihre Tochter verkaufen, heisst es. «Dabei geht es mir nicht ums Geld, sondern um Gerechtigkeit», betont die Mutter der heute 23-Jährigen. Claudia kritisiert besonders, dass die neuen drospirenonhaltigen Pillen von Bayer ein erhöhtes Embolierisiko darstellen und trotzdem noch nie an unter 18-jährigen Frauen getestet wurden – obwohl diese die Hauptzielgruppe ausmachen.

Mehr als sechs Jahre sind vergangen. Aktuell ist das Thema noch immer – unter anderem aus rechtlicher Sicht. Nach dem ersten Gang vor Gericht wurde dem Konzern Bayer Recht gegeben, worauf Claudia ans Bezirksgericht geht. Wohlbemerkt nicht als Klägerin, sondern offiziell als Célines Beistand. Die Jungerwachsene kann nach ihrer Lungenembolie zwar nicht mehr selbstständig gehen, essen oder sprechen; Claudia fragt ihre Tochter aber immer wieder, ob sie weiterkämpfen will, und erhält Bestätigung. Die Mutter fungiert als Sprachrohr der Tochter beim Verhandeln mit ÄrztInnen, der Krankenkasse und der IV.

Als Célines Eltern und ihre Schwester die junge Frau an die zweite Gerichtverhandlung mitbringen, reagieren die VertreterInnen und von Bayer und deren Anwälte beklemmt und wünschen, dass Céline den Raum verlässt. Wieder erhält Bayer Recht: In der Packungsbeilage der Antibabypille sei auf die Risiken einer Lungenembolie hingewiesen worden, heisst es. «Den Beweisen auf Célines Seite wird zu wenig Beachtung geschenkt», findet Claudia, die den Fall gemeinsam mit Céline, dem Anwalt und mittlerweile der Krankenkasse CSS als Mitklägerin weiterzieht. Friedensrichterin, Bezirksgericht, Obergericht: Alle geben Bayer Recht.

Streitpunkt Kosten

Das Verlieren kostet Geld. Im Sommer 2013 verpflichtete das Bezirksgericht Céline dazu, 120’000 Franken Prozessentschädigung an Bayer zu zahlen. Nun steht Bayer eine erneute Gerichtsentschädigung in der Höhe von 74 000 Franken zu. Zeitgleich hört Claudia Pfleger nach wie vor den Vorwurf, zu viel Geld zu verlangen. SpezialistInnen haben gemeinsam mit ihrem Anwalt ein Gutachten erstellt, das ausrechnet, wie hoch die Pflegekosten wären, wenn die Mutter und die Schwester von Céline sie bis an ihr Lebensende zu Hause betreuen würden. Statistisch gesehen hat Céline die selbe Lebenserwartung wie Frauen ohne Behinderung. Demnach würde sie bei einem positiven Gerichtsurteil 5 Millionen Franken erhalten. 400 000 Franken bekäme sie dabei direkt als Genugtuungssumme, der Rest würde ihr für die Pflegekosten in Raten ausbezahlt.

«Ich verstehe nicht, warum man diesen Betrag immer als überrissen betrachtet, wo doch so eine Zahlung die Allgemeinheit entlasten würde.», sagt Claudia.

Kleine Lichtblicke

Aufgegeben wird noch nicht, kleinere Fortschritte werden immer wieder erzielt. So erhielt Céline beispielsweise nach langen Aufenthalten in unzähligen Rehabilitationskliniken neulich endlich einen Platz im Lindli-Huus Schaffhausen – eine Erleichterung und Freude für die ganze Familie und für Céline selbst. Nun kann Céline viel einfacher am sozialen Leben teilhaben.

Und es wird vor Bundesgericht weitergekämpft, das Urteil soll gegen Ende dieses Jahres verkündet werden. Der Anwalt schätzt die Chancen als recht gut ein, und auch angenehme Reaktionen auf den ganzen Trubel bleiben der Familie Pfleger nicht verwehrt: Céline bekommt viele Geschenke, ein Freund hat sogar mal ein Openair für sie organisiert und Fremde schickten Céline Blumen. Der Fall habe aufgerüttelt, ist Claudia sich sicher. «Wie auch immer das Urteil vor Bundesgericht nun ausfällt: Für mich zählt, dass die Öffentlichkeit schon so viel über diesen Fall erfahren hat.»

Tatsächlich führten die Medienberichte zu Diskussionen rund um die Risiken von hormoneller Verhütung. Damit mutmasslich verbundene Schwerstbehinderungen und Todesfälle, weltweit hundertfach, wurden bekannt. Mittlerweile hat Bayer schon zweimal die Packungsbeilage der Pille Yasmin geändert. Viele FrauenärztInnen geben Patientinnen zusätzlich zu den hormonellen Verhütungsmitteln mehrseitige Dokumente mit, die Risiken thematisieren. Kritische Stimmen besagen, dass dies längst nicht genug ist; Claudia Pfleger kämpft weiter gegen den Pharmariesen Bayer. «Wie viele Frauen sollen noch sterben oder behindert werden? Vielleicht ist es Célines Aufgabe, anderen Frauen zu helfen. Wenigstens das gibt diesem Ganzen einen Sinn.»