Entzug nur für Gläubige

Auch in Schaffhausen gibt es die «Anonymen Alkoholiker». Sie setzen auf Spiritualität, um dem Alkohol zu entsagen.

Bild: lz.

Unbehagen liegt in der Luft. Als wären die Männer, die in der Webergasse stehen, auf frischer Tat ertappt worden. Um die Ecke kommt Ruedi und wird von allen herzlich begrüsst. Aber mit mir, der jungen Lappi-Redakteurin, wollen sie nicht richtig warm werden.

Die Männer gehen rein und Ruedi bleibt bei mir. Die Fahrt mit seiner Yamaha nach Schaffhausen sei sehr schön gewesen, über die Landstrassen könne man etwas mehr Gas geben. Nach ein paar Minuten schaut einer der Männer raus und teilt mir bedauernd mit, dass ich nicht herein dürfe, einige Meetingsteilnehmer seien nicht einverstanden damit, jemanden von den Medien dabei zu haben.

Das Schild der «Anonymen Alkoholiker» (AA) steht in der Ecke des Fensters, und hinter der verschlossenen Tür sitzen Menschen, die gleich über ihre tiefsten Ängste, Niederlagen und Probleme, aber auch über ihre Erfolge sprechen werden. Jede Woche treffen sie sich und tauschen sich aus, im Kreis der Süchtigen.

Ruedi aber ist da, um mir seine Geschichte zu erzählen. Der grossgewachsene, ältere Mann ist ein waschechter Rocker. AC/DC und Konsorten zieren seine Jeansweste, darunter seine ledrige Haut. Er zieht tief an seiner Zigarette und bestellt für uns beide Eistee. Wieder ist das Unbehagen da. Die Kombination scheint den Leuten, die uns sehen, nicht ganz geheuer zu sein, ihre Blicke verraten Erstaunen und Missbilligung.

Brennsprit mit Orangensaft

Ruedi ist sich Verachtung gewohnt, er kennt das Gefühl nur zu gut, denn er, der harte Rocker, lag vor zehn Jahren auf dem Totenbett, verachtete die Welt und sich selbst, nur der Alkohol zählte noch. Nachdem er pleite und verzweifelt Brennsprit mit Orangensaft heruntergewürgt hatte und im Spital landete, erkannte er, dass der Stoff ihn beherrschte.

«Mit dem Alkohol ging’s nicht mehr, ohne auch nicht.» Darauf folgten der erzwungene Aufenthalt in der Psychiatrie und die Qualen des Entzugs. Nach vier Wochen stand Ruedi vor dem Nichts, die Familie machte einen grossen Bogen um ihn, Haus und Job waren schon lange weg. «Wenn ich betrunken war, dann hatte ich den Alk, nüchtern hatte ich nichts mehr.» Die Hoffnung kam mit dem ersten Besuch bei den «Anonymen Alkoholikern», zwei von Ihnen hatte er in der Psychiatrie kennengelernt. Seither hat Ruedi kein einziges Treffen verpasst und keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Mittlerweile ist er fit, hat den Krebs überlebt, ein Dach über dem Kopf und ein gutes Verhältnis zu seiner Familie. Drei Jahre lang hat er Öffentlichkeitsarbeit für die AA geleistet und schon einige Gespräche mit JournalistInnen geführt.

Zwölf Schritte zum Seelenheil

Die AA ist eine Selbsthilfeorganisation, die in den 1930er Jahren in den USA gegründet wurde. Ein Börsenmakler und ein Arzt hatten durch eine spirituelle Erfahrung ihre Sucht überwunden und begannen, ihre Philosophie aufzuschreiben und zu verbreiten. Heute zählen die AA über zwei Millionen Mitglieder weltweit, in der Schweiz existieren gemäss Angaben der Organisation 170 Gruppen, in Schaffhausen treffen sie sich immer am Mittwoch. Anonymität ist für die MitgliederInnen sehr wichtig, darum nennen sie nur ihren Vornamen und treten nur durch ihre offiziellen Kanäle an die Medien.

Die Schrift der AA ist heute ein knapp 500-seitiges Manuskript, das im deutschsprachigen Raum wegen der Einbandfarbe das «Blaue Buch» genannt wird. Darin werden die Geschichten und Erlebnisberichte vieler Mitglieder geschildert. Die beschriebenen Leitlinien – die sogenannten zwölf Traditionen – sind die Schritte, die zur Genesung führen sollen. Voraussetzung dafür ist der ernsthafte Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören und die Bereitschaft, an eine höhere Macht zu glauben.

Liest man sich durch das Buch, ist die göttliche Macht als Quelle der Erlösung allgegenwärtig. Der Text wirkt oft nicht zeitgemäss und hinterlässt einen dogmatischen Nachgeschmack: «Wenn Sie feststellen, dass Sie nicht gänzlich mit dem Trinken aufhören können, obwohl Sie es aufrichtig wünschen (…), so sind Sie wahrscheinlich Alkoholiker. Wenn das der Fall ist, leiden Sie möglicherweise unter einer Krankheit, die nur durch spirituelle Erfahrung überwunden werden kann.» Für jemanden, der sich als AtheistIn oder AgnostikerIn fühlt, scheint eine solche Erfahrung unmöglich zu sein. Wenn die betroffene Person bei dieser Meinung bleibt, bedeutet das ihren Untergang, besonders wenn sie hoffnungslos dem Alkohol verfallen ist. Obwohl die AA keine religiöse Angehörigkeit bevorzugen oder ausschliessen, machen solche Aussagen klar, dass jemand, der sich nicht gläubig fühlt, bei ihnen am falschen Ort ist.

Ruedi nippt bedacht am Glas und bestätigt die Vermutung. Er habe früher nur an seine Stärke, Gewalt und an den Alkohol geglaubt. Durch die AA sei ihm aber bewusst geworden, dass ihn Gott alleine vor dem Tod bewahrt habe und dass er ohne spirituelle Hilfe die Sucht nicht hätte überwinden können.

Im Glauben liegt die Lösung

Die AA vertreten die Meinung, dass Alkoholkranke ihr Leben lang mit der Sucht zu kämpfen haben und dass die Herausforderung jeden Tag neu beginnt. 24 Stunden dem Alkohol widerstehen, das ist das Ziel und nur durch die Führung Gottes und die Solidarität anderer trockener KollegInnen zu erreichen. Nicht-Alkoholkranke haben gemäss dem «Blauen Buch» gar nicht die Fähigkeit, ernsthaft zu helfen, weil sie die Betroffenen nicht erreichen. Für die Familienangehörigen der Süchtigen gibt es spezielle Gruppen, weil für die AA die Alkoholsucht zur Familienkrankheit wird. Die Co-Abhängigkeit ist genau so zu bekämpfen wie die eigentliche Sucht, auch wenn die Angehörigen kein eigentliches Alkoholproblem haben.

So gewinnt die Gemeinschaft an Stärke und wird zum neuen Leben der Mitglieder. Ruedi schwärmt von Treffen mit KollegInnen aus aller Welt, die durch die gemeinsame Leidensgeschichte unmittelbar zu FreundInnen werden. Er verdankt den AA, dass er heute wieder auf den Beinen ist, Glück empfindet und Lebenssinn gefunden hat. Die Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen ist unbestritten, das Verständnis, das von anderen Betroffenen aufgebracht werden kann, und die gegenseitige Unterstützung sind wichtige Anker. Und doch scheinen die AA eine Art Parallelgesellschaft zu bilden, die für Aussenstehende schwer fassbar bleibt. Als sei die Welt ohne Alkohol eine andere; die Eintrittskarte bekommen nur diejenigen, die glauben können. Muss diese Ausschliesslichkeit denn unbedingt sein? Ja, meint Ruedi. Es gäbe auch andere Entzugsangebote, aber die AA hätten gerade dank ihrer Spiritualität einen so grossen Erfolg.

Ein leichtes Unbehagen bleibt

Tatsache ist, dass viele Menschen durch die Organisation die Kraft aufbringen, ihr Leben nicht mehr im Suff zu verbringen, auch wenn sie die Suche nach dem Glück im Rausch durch die Suche nach Glück bei Gott ersetzen.

Ruedi hat seinen Weg gefunden und ist überzeugt davon, die einzig richtige Wahl getroffen zu haben. Nach dem Eistee verabschiedet er sich und verschwindet mit seiner Maschine. Für mich bleibt die Tür leider bis zum Schluss verschlossen. Ein leichtes Unbehagen liegt noch immer in der Luft.