Samen im Sand

Auslese

«Der Sex, sage ich mir, stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise.»

Michel Houellebecq – Ausweitung der Kampfzone

Ein Roman, so denkt man doch, ist eine scheinbar ungelenke Methode, um ein Nichts zu erschreiben. Man denkt doch – welch Geste! – wie wenn man bereits ein Nichts erdenkt, es keins mehr ist. Obschon der Protagonist in Houellebecqs Schrift mit der Problematik der Form hadert, wendet er sich den LeserInnen zu und erschreibt in autobiographischer Attitüde sich in seinem Lebensraum, den Nachwehen der kapitalistischen Postmoderne.

Nach dreissig Jahren Lebenszeit findet sich der Autor des Romans im Roman inmitten einer Welt, in welcher die von zweierlei Systemen – dem triebhaften Hierarchieprinzip der sexuellen Aktivität und dem der wirtschaftsliberalen Rangordnung – gebeutelten, entfremdeten Menschen an ihren Bedingungen mitleidserregend scheitern.

Der als Programmierer in einem EDV-Dienstleistungsbetrieb tätige Protagonist fordert zu Beginn seines Romans die LeserInnen auf, sich an sein Eindringen in das, was er selbst «Kampfzone» nennt, zu vergegenwärtigen. Sich daran zu erinnern, wie man selbst – dem naiven Staunen der Kindheit und den Wirren der Adoleszenz entwachsen – sich nicht damit begnügen konnte, die einfachen Funktionsprozesse der menschlichen Existenz zu vollziehen und sich dem Regelwerk der Welt zu unterwerfen – sondern einen Sinn einzufordern. Er lasse die LeserInnen nicht fallen, meint er noch. Diese werde gleich sterben; jetzt gleich. Doch er sei für sie da.

NATHALIE RAUSCH studiert in Zürich Germanistik.

Die Menschen, welche in seinen Geschichten auftreten, scheinen sich – frei nach Bourdieu – allesamt derselben kollektiven Übereinkunft verschrieben zu haben: Ein Spiel zu spielen, miteinander, sich gleichsam den Regeln des Spiels zu unterwerfen und erbittert zu hoffen, dass sich das Spiel für sie lohnen möge. Als er auf Dienstreisen geschickt wird, um mit einem Kollegen ein Programm zu vertreiben, wandelt sich der Protagonist vom Beobachtenden zum Akteur, tritt aus seiner innerweltlichen Realität und eignet sich in brutaler Weise seine Welt an, indem er seinen Kollegen nach langen Zeiten des Mitleids und Ekels mit dessen abscheulicher Existenz konfrontiert: «Du wirst immer ein Waisenkind dieser Jugendlieben bleiben, die du nicht erfahren hast.

Die Wunde in dir schmerzt; sie wird immer schmerzhafter werden. Eine schreckliche, unbarmherzige Bitterkeit wird am Ende dein Herz erfüllen. Für dich gibt es weder Erlösung noch Linderung. So ist das. Aber das soll nicht heissen, dass dir jede Möglichkeit der Rache verboten ist.» Das Leben einer Frau könne er besitzen, der Herr einer menschlichen Interaktion zumindest für den kurzen Moment ihres Sterbens sein. Als dieser sodann dem Mädchen und ihrem Liebhaber an den Strand folgt, bleibt das Scheitern seiner Existenz dermassen allumfassend, dass er bis zuletzt Voyeur seiner Welt bleibt und sich sein Samen einsam auf den Sand ergiesst, er zuletzt kurz danach abseits der Augen aller die Welt verlässt.

Auch der Protagonist wendet sich ab und kapituliert vor der Welt und all ihrer Erbarmungslosigkeit; zunächst in die Tiefe seiner Selbst, letztlich auf eine Reise, immer weiter fort von der Bühne, auf welcher seine Mitmenschen die Realität aufführen: «Ich spüre meine Haut wie eine Grenze; die Aussenwelt ist das, was mich zermalmt. Heilloses Gefühl der Trennung; von nun an bin ich ein Gefangener in mir selbst. Die sublime Verschmelzung wird nicht stattfinden; das Lebensziel ist verfehlt.»

Und die LeserInnen? Vielleicht legen sie das Buch zur Seite und sehen auf die Uhr. Vielleicht schliessen sie die Augen, für einen kurzen Moment. Vielleicht tritt ihnen ein Bild vor Augen, als sie diese Aufzeichnungen lesen, und sie denken an das Kellerloch des erschöpften, späten zwanzigsten Jahrhunderts.