Sitte, Anstand und Schamgefühl

Historique

Jugendliche schicken dieser Tage aufreizende Selfies durch die Schulbänke, und gar in unserem kleinen Paradies kommt’s zu «Sexting»-Fällen. Da werden die älteren Generationen der Zeiten gedenken, als man den Buben in der Lebenskunde noch «Ritterlichkeit» im Umgang mit Mädchen lehrte, und jene wiederum ermahnte, ihre «letzte Karte» nicht zu verspielen.

Wobei damals selbst eine solch verhaltene Thematisierung der Geschlechtlichkeit – in unserer Quelle auch als «das Problem» bezeichnet – einer kleinen sexuellen Revolution nahekam. Dies zeigt der Blick in die «Dokumentation für Lebenskunde» von 1968: Handbuch zur Einführung der sexuellen Aufklärung an Schaffhauser Schulen, aufgrund des Beschlusses des Erziehungsrates von einer Spezialkomission verfasst. Darin enthalten ist die «Anleitung zur Durchführung des Aufklärungs­unterrichts im engeren Sinn» – ein Eiertanz zwischen Information und Diskretion: Wie kann man die Zöglinge aufklären, ohne sie auf dumme Ideen zu bringen?

Der stichwortartig erläuterte Lehrstoff weiss folgenden, etwas rätselhaften Rat: «Sexuelle Spielereien nicht dramatisieren: Ablenken!» Gerade bezüglich der männlichen Selbstbefriedigung wollen wir aber eine gewisse Aufgeschlossenheit nicht verkennen. Im «psychologisch-sittlichen Teil für Knaben» befürwortet man die «Bekämpfung alter Greuelmärchen, dass bei der Onanie Rückenmarkflüssigkeit oder gar Hirnsubstanz verloren würde».

Zudem soll der Versündigungsgedanke verabschiedet, und stattdessen «Sitte, Anstand und Schamgefühl» geweckt werden. So muss der Knabe «warten lernen und ‹ritterlich› erobern». Was allerdings etwas erschwert sei «durch die Kleidung der Mädchen, durch das sportliche Gebahren und auch durch die Konkurrenz auf allen Berufen». Deshalb soll das Objekt der Begierde quasi entsexualisiert werden: die «potentielle Mutter» im Mädchen erkannt werden.

Zeichnet sich auch eine Aufhebung sexueller Tabus ab, von Gleichberechtigung fehlt noch jede Spur. Sexuelles Verlangen wird dem weiblichen Geschlecht kaum zugestanden: «Die Onanie ist bei Mädchen im Pubertätsalter sicher viel seltener und weniger zwingend als beim Knaben. Es fragt sich daher, ob man sie hier erwähnen soll.» Eventuell soll der Schularzt in Zusammenhang mit der männlichen Onanie bemerken, «dass Ähnliches beim Mädchen auch vorkommen kann». Zentral ist indessen die Lektion zur vorehelichen Intimität, der «unmittelbaren Gefahrenzone».

Der Aufklärungsberechtigte möge sich auf eine Allegorie berufen: Das «Bild der Knospe, die man zu früh auseinander reisst und damit am Blühen verhindert». Durch den vermeintlich frühzeitigen Sex – für Mädchen «häufig ganz negativ und schockierend» – wird die «letzte Karte» vertan. Aber selbst wenn Mädchen damals schon freie Hand gehabt hätten, ihren Ruf etwa mit erotischen Handyfotos aufs Spiel zu setzen – bei einer solchen gesellschaftlichen Wertung der weiblichen Sexualität hat Frau aus heutiger Sicht sowieso schon irgendwie verloren.