Zertretene Schildkröten

Der Lappi geht auf Tuchfühlung mit der Goa-Kultur – eine Art von Bewusstseinserweiterung.

Mit dem Velo machen wir uns an einem sonnigen Samstagnachmittag auf, unseren Horizont zu erweitern. Das Goa-Openair steigt auf einem abgelegenen Landstrich unweit von Schaffhausen. Als uns nach rund 20-minütiger Fahrt allmählich das Wummern des Basses ans Ohr dringt, zeichnet sich in der Ferne bereits das Festivalgelände ab.

Eisenschranken mit Sichtschutz umgeben es wie eine Festung, in der Höhe flattern bunte Fahnen. Der Gedanke an eine Burg bleibt bestehen, als wir uns vom Sattel geschwungen und die Kasse passiert haben: Eine Art futuristischer Mittelaltermarkt tut sich vor uns auf.

Die Verbindung von monotonen Rhythmen, Lichteffekten und psychoaktive Substanzen führt zum TRANCEHAFTEN ZUSTAND auf der Tanzfläche. Bild: Redaktion

An Basarständen werden Stein- und Federschmuck, Pullover mit Zipfelkapuzen und allerlei Tücher feilgeboten, geziert von mystischen Ornamenten und märchenhaften Motiven. Der Markt und die bunten Zelte, welche einige BesucherInnen dahinter aufgebaut haben, umgeben das Zentrum des Geschehens: Tanzfläche und DJ-Bühne, über die sich neonfarben schillernde Segel spannen. Um diesen Platz dreht sich hier alles, die Leute tummeln sich barfuss in der gemähten Wiese oder rasten auf Stoffdecken.

Direkt aus dem Zauberwald

Hier hat jemand eine Blume, dort jemand ein Räucherstäbchen im Haarband stecken. Manche haben sich in ihren fantasievollen grünen Leinengewändern und braunen Lederkleidchen aus dem Zauberwald herbei gebeamt. Aber keine Spur von Befremdung, die Gespräche sind unbeschwert – und die Füsse federleicht. Es wird gelacht und getanzt, jemand lässt einen Hula-Hoop-Reifen um sich kreisen.

«Schau dich um, alle sind hier nett zueinander», meint ein Besucher, der uns zu sich auf seine Wolldecke eingeladen hat. Er ist um die Dreissig und heisst vielleicht Stephan. Stephan wendet sich an die Personengruppe nebenan, die auf ihrem Lager gerade spontan einen Coiffeursalon eingerichtet hat, und fragt nach Tabak. Mit der Packung wedelt er vor meiner Nase: «Das meine ich.

Fruchtsalat und Drogencocktail

Man hilft einander aus, wie in einer Familie.» Er selbst sei allerdings nicht unbedingt waschechter Goaner. «Aber meine Freundin hier, sie lebt Goa», meint er, als sich eine etwa gleichaltrige Frau im roten Samtmantel zu uns setzt. Sie war gerade auf Nahrungssuche, erfolglos. Hier werde halt nicht besonders viel gegessen, so Stephan – mit einem Augenzwinkern auf Appetitzügler wie MDMA, Amphetamine oder auch LSD anspielend. Seine Freundin, die wir Katja nennen wollen, nickt. Essen sei an einer Goa-Party normalerweise zweitrangig. In erster Linie müssten jederzeit Getränke zur Verfügung stehen, idealerweise Fruchtsaft oder sonst Fruchtsalat.

Momentan möchte sie sich jedoch nicht mit Flüssigkeit und Vitaminen begnügen. Sie ist hungrig und absolut nüchtern – weil schwanger. «Naja, es geht ganz gut ohne Drogen», erwidert Katja auf die Nachfrage. «Aber sie gehören halt schon irgendwie dazu. Allerdings auch nicht mehr als in anderen Szenen der elektronischen Musik.»

In der Goa-Kultur gehe es im Gegensatz zu anderen Gruppierungen beim gelegentlichen Konsum psychoaktiver Substanzen immer um die harmonische Stimmung, wie sie sich nur unter freiem Himmel, im Einklang von Musik und Natur entfalten könne. «In den Clubs herrscht ein viel aggressiveres Klima, oft wimmelt es von Koksern», so Katja. «Das merkst du auch an der Musik: Techno zum Beispiel ist viel brutaler als Goa. Von allen elektronischen Musikstilen ist Goa am gefühlvollsten, er hat diese Feinheiten.»

In der Tat, man sieht an diesem Festival keinen exzessiven Drogenkonsum, der zu körperlichen Zusammenbrüchen und Gewalt führt. Hier wird weniger Dampf abgelassen als Kraft getankt. Die Goa-­Party ist so etwas wie ein gemeinschaftlicher Ausbruch aus den gewohnten Bahnen. Auch wenn natürlich gerade eine solche gelegentliche Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln in die Ausweglosigkeit führen mag: Naheliegend, dass durch den Reiz dieser Alltagsfluchten die restlichen Wochentage umso gleichförmiger erscheinen.

Es geht schon zu Herzen, wenn etwa Stephan mit stark erweiterten Pupillen und leicht wehmütigem Blick in einem besonders geistesgegenwärtigen Moment mahnt: «Du musst wirklich aufpassen. Auch wenn du denkst, dass du dich im Griff hast. Wir wissen, wie es ist, hängen zu bleiben.» Katja relativiert das Ganze, sie kenne auf jeden Fall gewisse Grenzen. Sie lehnt sich zurück und schaut über ihre Schulter. Dort sitzt eine Familie, die kleinen Kinder tragen Ohrenschützer.

«Bei aller Liebe – das würde ich zum Beispiel nie machen, die Kleinen an eine Goa-Party mitnehmen. Auch wenn sie’s noch nicht wirklich kapieren, sie spüren trotzdem, wenn etwas seltsam ist. Ich würde das meinem Kind nicht so vorleben – ich will ja nicht, dass es später Drogen nimmt.» Dann entschuldigt sich die werdende Mutter. «Sorry, aber der Sound ist zu geil. Ich muss tanzen gehen.»

Tanz im Energiefeld

Längst ist die Dunkelheit eingebrochen, die Lasershow hat eingesetzt. Den grössten Teil der Besucher Innen hat es mittlerweile auf die Tanzfläche gezogen. Plötzlich verlangsamt sich die Bewegung vor der Bühne, die Leute wenden ihre Köpfe zum Eingang des Festivalgeländes. Dort steht die Polizei. Noch eine Weile steht sie da. Dann ist sie verschwunden. Man rückt wieder zusammen.

Ein Mann hält eine Sonnenblume in die Höhe, als selbst ernanntes U-Boot taucht er durch die Menge. Der Bass pumpt im Herzen, Füsse stampfen auf den Boden. Hier malmt ein Kiefer, dort wispern Lippen in stiller Verzückung und Hände greifen tastend ins Leere. Ein älterer Herr mit Filzhut tritt auf eine Bierbüchse, zerknirscht schaut er zu Boden. Vertraulich neigt er sich zu mir und raunt: «Jetzt hab i grad eine Schildkröte zertredden.»

Als unsere Beine langsam müde werden, kommt uns immer klarer zu Bewusstsein, wie misslich der Entschluss war, das Velo zu nehmen. Unwillig treten wir den Heimweg an, die Fahrt ist allerdings nur von kurzer Dauer. Beim nahegelegenen Bahnhof sind wir genötigt, vom Sattel zu steigen: Zwei Polizisten leuchten uns mit Taschenlampen ins Gesicht.

Wir unsererseits sind lichttechnisch nicht alle angemessen ausgerüstet. Hier wollten wir sowieso auf den Zug nach Schaffhausen warten, so erklären wir das – und nehmen in Kauf, dass die Reise zu einem etwas längeren, aber bequemen Ende kommt. Damit lassen die Beamten von uns ab, schliesslich verfolgen sie hier gerade eine Spur: Die überquellenden Abfalleimer werden inspiziert und die Glasscheiben nach Beschädigungen abgeleuchtet.