Gregor Gysi, Fraktionspräsident «Die Linke» im deutschen Bundestag, spricht im Lappi-Interview über linke Europapolitik, das Verhältnis der Schweiz zur EU und die Mobilisierung des unteren Viertels. Ausserdem freut er sich über das Ende der Überwachung seiner Person und der Linkspartei.
Gregor Gysi, in ganz Europa sind ultrakonservative bis rechtsradikale Parteien auf dem Vormarsch und vernetzen sich. Ist die Europäische Linke, die Internationale, dagegen nicht im Hintertreffen?
Wir haben ja eine europäische Linkspartei, aber sie ist noch nicht besonders stark. Man darf nicht unterschätzen: Durch das Scheitern des Staatssozialismus ist die Linke auch in Westeuropa völlig ins Strudeln geraten. Die Rechte blüht deshalb auf, weil mit der Idee der EU nicht mehr soziale Wohlfahrt und mehr Demokratie, sondern das Gegenteil verbunden wird. Und wenn 60 Prozent der Jugendlichen in Griechenland arbeitslos sind, kann man sich ja ausrechnen, dass diese Menschen nicht auf Parteien stehen, die Anhänger der europäischen Integration sind. Heute gibt es eine Gegenbewegung zur europäischen Integration, die aber mit der realen und völlig falschen Sparpolitik zu tun, die vornehmlich die deutsche Bundesregierung Südeuropa aufgedrückt hat. Darunter beginnt jetzt übrigens auch Deutschland zu leiden, denn die Länder im Süden können sich unsere Exporte nicht mehr leisten.
Ihre Kritik an der Art und Weise, wie die EU funktioniert, teilen in der Schweiz auch linke Wähler, nachdem sich die Sozialdemokraten immer für einen Beitritt ausgesprochen haben. Heute gibt es immer mehr Schweizer Linke, welche die EU als marktliberales Konstrukt ablehnen, in dem die Wirtschaft die Politik beherrscht anstatt umgekehrt. Wie können linke Kräfte die EU in die richtige Richtung verändern?
Als Erstes müssen wir das europäische Parlament stärken. Als zweites müssen wir uns gründlich Gedanken machen über die Kompetenzen der EU. Aus der Zeit, in der die EU noch nichts zu sagen hatte, resultierte, dass man ihr blöde Aufgaben gab, die zu wahnsinnigen Entscheidungen führten. Wenn man ein Amt schafft, entscheiden die Beamten auch irgendetwas. Dann entschieden die eben, wie krumm eine Gurke sein darf. Mit dem Ergebnis, dass 80’000 Tonnen Gurken vernichtet wurden, weil die Krümmung nicht stimmte. Und das in einer Welt, in der jedes Jahr 18 Millionen Menschen verhungern – solche schwachsinnigen Entwicklungen kann man überhaupt niemandem erklären. Also sage ich, wir müssen auch Bürokratie abbauen. Und wir müssen die Verträge ändern. Wir müssen Verträge machen, die zu mehr sozialer Wohlfahrt und zu mehr Mitbestimmung führen. Was sich hingegen bewährt hat, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der öfters erfolgreich eingreift. Es gibt also auch Entwicklungen, die zu begrüssen sind. Und letztlich ist es doch ganz einfach: Die einzelnen europäischen Staaten haben in der Welt politisch und ökonomisch wenig mitzuentscheiden. Nur als europäische Union sind sie stark.
Die Schweiz steht demnach als Nichtmitglied isoliert da. Aber gerade der Europäische Gerichtshof, den Sie angesprochen haben, trifft bei vielen Schweizern einen wunden Punkt: Sie haben Angst um die Souveränität der Schweiz.
Angst haben sie völlig zu Recht. Es wäre gar nicht so schlecht, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch in der Schweiz entscheiden dürfte (lacht). Aber: Für die Schweiz ist die Frage eine andere als für andere Staaten. Die Schweiz lebt seit Jahrhunderten von der Neutralität. Sobald man Mitglied der EU ist, ist diese Neutralität eingeschränkt. Gerade die führende Rolle der Schweiz im Rahmen der OSZE in Bezug auf die Ukraine kann sie nur einnehmen, weil sie eben nicht in der EU ist. Deshalb und wegen der besonderen Geschichte der Schweiz würde ich bei der Beitrittsfrage auch erst mal zögern. Trotzdem muss die Schweiz europäisch sein und die richtigen Verträge schliessen. Nun gibt es den Volksentscheid über die Masseneinwanderungsinitiative, der einen Vertrag der Schweiz mit Europa in Frage stellt – hier finde ich, Europa sollte härter sein. Das liegt zwar auch daran, dass mir dieser Mehrheitsentscheid nicht gefällt, aber er gilt erstmal.
In Viktor Giaccobos Film «Der grosse Kanton» sagen Sie, der Beitritt zur Schweiz wäre für Deutschland geadezu ein Segen. Wie dürfen wir das verstehen?
Das war natürlich leicht ironisch gemeint, sollte aber bedeuten, dass die Schweiz eine andere Form der Demokratie hat, die Deutschland dringend benötigt. Die Schweizer Volksentscheide schaffen eine grössere Nähe von Politikerinnen und Politikern zu den Bürgerinnen und Bürgern. Ausserdem hat die Schweiz seit über 200 Jahren nicht mehr an einem Krieg teilgenommen – wenn ich diese Garantie für Deutschland hätte, wäre ich schon sehr zufrieden.
Deutschland müsste also in Sachen Demokratie noch etwas von der Schweiz lernen?
Ja, wobei Volksentscheide nicht bedeuten, dass man mit seinen Vorstellungen immer gewinnt. Man muss sie akzeptieren, wie sie ausgehen. Das aber erfordert, dass man ganz anders um den Zeitgeist kämpft und eine ganz andere Nähe aufbaut. Wir müssen uns in der Schweiz wie auch in Deutschland Gedanken darüber machen, wie man dafür sorgen kann, dass sich auch das untere und das obere Viertel für den Staat interessieren. Sie interessieren sich aus unterschiedlichen Gründen nicht: Das obere Viertel nimmt dennoch an Volksentscheiden teil, das untere eher nicht – ich nehme an, das ist in der Schweiz auch so.
Aus aktuellem Anlass: Sie werden seit kurzem nicht mehr vom Bundesverfassungsschutz überwacht, und letzte Woche entschied ein Gericht, dass alle Akten über Sie vernichtet werden müssen – ein Sieg nach einem langen Kampf. Auch die Linke wird nicht mehr überwacht, mit der Ausnahme von sogenannten «offen extremistischen Strukturen» in der Partei. Werden Sie weiterhin dagegen ankämpfen?
Na selbstverständlich, das ist ja alles Blödsinn: Zuerst die höllische Arbeit, die Akten anzulegen – was sinnlos war –, und nun die höllische Arbeit, alles wieder zu vernichten. Wobei ich dem Verfassungsschutz letztere Arbeit gönne. Ich habe nun alle Landesminister angeschrieben und gefragt, ob sie Bundestagsabgeordnete meiner Partei überwachen. 15 von 16 Länder antworteten, sie hätten uns nie überwacht oder täten es nicht mehr. Nur einer hat sich anders geäussert: der Innenminister von Bayern. Er sagte, doch, in Ausnahmefällen machen wir das nach wie vor. Nun werden wir rausfinden, wen das betrifft, und dann führen wir einen Prozess in Bayern. Und wenn wir das durch haben, will ich, dass die Partei auch einen Prozess gegen die Überwachung irgendwelcher Strömungen führt, denn die Argumente dafür sind ja lächerlicher Natur. Und dass die Sorge in Deutschland nicht die Linken sind, sondern die Rechtsextremen, haben die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds ja ausreichend bewiesen.
Sie würden Ihre Haltung, dass Parteien nicht überwacht werden sollen, also nicht auf Parteien am rechten Rand ausdehnen?
Doch, ich wäre beispielsweise gegen eine Überwachung der AFD. Ich kann sie zwar nicht leiden und ich weiss auch, dass sie rechts ist, aber der Geheimdienst ist für sie nicht zuständig. Es gibt für mich aber eine Ausnahme: die NPD. Sie ist eine Nazi-Partei, und sie sollte meines Erachtens auch verboten werden, obwohl ich kein Freund von Parteiverboten bin. Aber die NPD geht zu weit, und wir brauchen nach innen und nach aussen das Signal, dass eine bestimmte Grenze nicht überschritten werden darf.
Wie hat man die Überwachung von Mitgliedern der Linken überhaupt gerechtfertigt?
Die haben ja nie gesagt, Leute wie ich seien Extremisten, sondern sie müssten uns beobachten, um herauszufinden, welchen Einfluss Extremistinnen und Extremisten in der Partei haben – so lautete die Begründung (lacht). Grundsätzlich muss man sehen: Es ist die Aufgabe des Parlaments, die Geheimdienste zu kontrollieren – nicht umgekehrt. Und wenn der Verfassungsschutz so überwacht, wie er es bei uns gemacht hat, sind die Leute verunsichert, was eine Mitgliedschaft in unserer Partei angeht. In Bayern hat man beispielsweise keine Chance auf eine Anstellung im öffentlichen Dienst, wenn man Mitglied der Linken ist. Das kostet uns auch Mitgliederbeiträge. Zudem ist die staatliche Parteienfinanzierung unter anderem von der Höhe der Mitgliederbeiträge und Spenden abhängig. Wenn die Deutsche Bank der CDU 500’000 Euro spendet, erhält die CDU auch eine höhere staatliche Finanzierung. Der Linken hingegen entgingen durch die Überwachung staatliche Fördermittel, weil die Leute in Sachen Spenden und Mitgliedschaft zögerlich sind.
Zurück zu ihrer Partei, zur Linken: Sie hat unter den Arbeitslosen eine starke Wählerbasis. Heisst das, wenn es mit der Konjunktur aufwärts geht, geht es mit der Linken wieder abwärts?
Wissen Sie, wenn wir einen demokratischen Sozialismus haben, die Verhältnisse in jeder Hinsicht gerecht sind, dann sind wir vielleicht völlig überflüssig, das würde mich aber nicht stören. Ich will doch reale Veränderungen erreichen und denke nicht nur in Stimmen. Wenn es den Leuten besser geht, ist eines unserer Ziele erreicht. Allerdings müssen wir für den unteren Teil der Gesellschaft da sein. Ich engagiere mich für Obdachlose, aber ich weiss, dass uns keiner von ihnen wählt. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen wir noch besser werden. Wir müssen verstärkt in Gewerkschaften arbeiten. Ausserdem vertreten wir auch die Mitte der Gesellschaft, was die Mitte allerdings zu wenig weiss. Unsere Einkommenssteuer hat einen Steuerbauch: Bei Arbeitnehmenden mit mittleren Einkommen ist der Unterschied zwischen Brutto- und Nettoeinkommen riesig gross. Die Mitte der Gesellschaft finanziert in Deutschland alles, weil sich der Staat an den reichsten Teil nicht herangetraut und weil der untere Teil fast nichts bezahlen kann. Wir als Linkspartei sind die einzigen, die die Mitte entlasten wollen – das geht aber nur, wenn wir den Spitzensteuersatz erhöhen.
Wir sind die einzigen, die für die Mitte eintreten, aber das muss sich erst noch rumsprechen.
In der Schweiz haben die linken Parteien ein ähnliches Problem: Gerade die Arbeiterschicht wählt eher SVP, in Deutschland wäre es vielleicht die AFD. Welche Rezepte gibt es dagegen?
Erstens nehme ich natürlich jede Stimme, da bin ich gar nicht wählerisch. Aber natürlich bin ich damit nicht zufrieden, obwohl wir uns bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schon verbessert haben. Als Linke müssen wir uns über Eines im Klaren sein: Die Leute trauen uns zu, dass wir vieles sozial gerechter machen. Aber sie sind sich nicht sicher, ob bei uns die Wirtschaft funktionierte. Deshalb sagen sie sich, es gibt nur in Armut, nicht aber in Wohlfahrt mehr Gerechtigkeit – das ist ein Problem, das die Linke erkennen muss. Sie muss sich wirtschaftlichen Themen noch stärker widmen. Das könnte auch in der Schweiz so sein.
Zweitens: In Brandenburg ist die Linke in der Regierung und stellt den Wirtschaftsminister. Und wo gab es 2013 die stärkste Wirtschaftsentwicklung? In Brandenburg. Stärker als in Bayern, stärker als in Baden-Württemberg. Das Gerücht, dass wir negative wirtschaftliche Folgen herbeiriefen, ist also Quatsch. Aber es gibt Leute, die es glauben. Wenn man Menschen erreichen will, muss man sich in ihrer Nähe organisieren, man muss kommunal aktiv sein, die Menschen müssen Mitglieder kennen, die sie als positiv empfinden. Und man muss versuchen, mit der Politik, die man macht, den Zeitgeist zu verändern.
Was meinen Sie damit?
Ein Beispiel: Anfang der 90er Jahre haben wir als einzige Partei den flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Bei anderen Parteien hatten wir damit keine Chance, bei der SPD nicht, bei den Grünen nicht, bei FDP und Union nicht. Nur drei Gewerkschaften waren unserer Meinung. Es hat gedauert und man brauchte Geduld. Inzwischen hat sich selbst die CDU bereit erklärt, den gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Er hat noch Haken und Kanten, aber immerhin: Er kommt. Das ist ein beachtlicher Erfolg. Auch die Praxisgebühr haben alle Parteien befürwortet, nur wir haben gesagt, sie ist völliger Schwachsinn und muss abgeschafft werden – nun ist sie abgeschafft. Manchmal bekommen wir also auch recht. Stichwort Afghanistan-Krieg: Wir waren die einzigen Gegner, alle anderen glaubten an eine Top-Entwicklung – na Pustekuchen. Heute gibt es auch in der Union, in der FDP, in der SPD und bei den Grünen kaum mehr Mitglieder, die sagen würden, der Krieg war in Ordnung. Ich will damit nicht rechthaberisch klingen, wir haben uns ja auch schon geirrt. Was ich sagen will: Es gibt ein paar Prinzipien, an denen es sinnvoll ist, festzuhalten, und sich nicht vom Mainstream wegtragen zu lassen, wie es auch mit Parteien manchmal geschieht.
Sie haben die Gewerkschaften angesprochen. Wie beurteilen Sie deren Rolle? Rücken sie unter der Grossen Koalition, in die SPD mitregiert, näher zur Regierung oder kippen sie eher zur Linken?
In der Zeit der «Agenda 2010» tendierten die Gewerkschaften eher zur Linken. Es handelte sich dabei ja um eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, die von der damaligen Regierung aus SPD und Grünen organisiert wurde. Jetzt stehen die Gewerkschaften wieder eher zur Sozialdemokratie, weil der Mindestlohn eingeführt worden ist. Allerdings ist die grosse Koalition auch schon aufgebraucht, da kommt in den nächsten zwei Jahren nicht mehr viel. Denn wozu die Koalition nicht bereit ist und wofür die SPD auch nicht gekämpft hat, ist die Steuergerechtigkeit. Und wenn es keine Steuergerechtigkeit gibt, gibt es auch keine soziale Gerechtigkeit. Deshalb denke ich, das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Linken wird sich wieder verbessern. Übrigens wird sich der neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, in Kürze in unserer Fraktion vorstellen – die Beziehungen sind also nicht so schlecht.
Zu welchen Anlässen singt Gregor Gysi die Internationale?
Die Internationale singen wir immer zum Abschluss des Parteitages. Aber lachen müssen wir, wenn wir singen: «Wir sind die stärkste der Partei’n» – das ist so offenkundig nicht richtig, aber es macht uns Spass, das zu singen (lacht), und es hat auch so ein provokatives Element. Es ist auch ein schönes Lied, überhaupt gibt es sehr schöne Arbeiterlieder.
Dazu sage ich Ihnen noch was, und das gilt sogar für die SPD: Parteien mit Fahnen, Liedern und Symbolen sind immer nur zu 60 Prozent mit dem Verstand zu überzeugen. 40 Prozent ist das Herz. Die anderen Parteien, die ohne Fahnen, Lieder und Symbole, sind viel rationaler. Manchmal wünschte ich mir, es wäre leichter, die Menschen rational zu überzeugen. Aber manchmal gefällt es mir auch, dass man so viel Emotion einbringen muss, um überhaupt etwas zu erreichen.
Dieses Interview ist in Zusammenarbeit mit der «schaffhauser az» entstanden und ist in einer gekürzten Fassung am Do. 11.9. in deren Printausgabe erschienen.