Es fichelet weiter

Durch Zufall wurde 1990 der Überwachungsstaat Schweiz zur Tatsache. Für viele Betroffene war das wohl nur die Bestätigung eines lange gehegten Verdachts.

Ein BLATT AUS MARCEL CUTTATS FICHE mit einem Eintrag aus dem Jahr 1988, kurz bevor die Affäre aufflog. Die Stellen, die auf den Informanten schliessen lassen könnten, wurden fein säuberlich herausgeschnitten. Aus Protest gegen den Überwachungsstaat Schweiz entstand der «Fichen-Fritz» mit Infos und kritischen Stimmen von Kunstschaffenden und PolitikerInnen.

In was für ein Wespennest sie da stechen würde, ahnte die PUK (Parlamentarische Untersuchungskommission) in der Affäre Elisabeth Kopp wohl nicht, als sie 1989 in den Bundesarchiven zu ermitteln begann. Da war die Bundesrätin, die Interna weitergegeben hatte, plötzlich nur noch die Spitze des Eisbergs: Während ihrer Recherchen stiess die PUK auf die Dateisammlung der Bundesanwaltschaft, ein Karteisystem zur Überwachung tausender Schweizer BürgerInnen und Armeeangehöriger.

Grund des Misstrauens war die latente Angst vor einem neuen Krieg, vor einer Invasion durch das kommunistische Russland. Rund zehn Prozent der Bevölkerung waren betroffen. Jeder, der in irgendeiner Weise aus der Norm fiel, wurde zum potentiellen Staatsfeind und Landesverräter. Dass in dieser Hysterie oft falsche, ungenaue oder völlig belanglose Informationen gesammelt wurden, war offenbar nebensächlich, wie auch die Frage nach der Legalität eines solchen Vorgehens.

Die Fichierung war keine Überraschung

Für viele Betroffene war die Aufdeckung des Überwachungssystems wohl nur die Bestätigung eines lange gewachsenen Verdachts. Auch Köbi Hirzel ahnte schon früh, was da vor sich ging: «Man konnte davon ausgehen, dass der Staatsschutz nicht Däumchen drehen würde. Dass da jemand mithörte, war sehr bald klar gewesen.» Der Sozialarbeiter aus Schaffhausen wurde wahrscheinlich während der Siebzigerjahre überwacht, genau weiss er es nicht. Als die Affäre aufgedeckt wurde und Hirzel von der Existenz seiner Fiche erfuhr, war das denn nicht wirklich eine grosse Überraschung. Als viel erschreckender empfand er die Tatsache, dass mehr als nur eine Person an seiner Bespitzelung beteiligt gewesen sein musste und hinter seinem Rücken Daten gesammelt hatten. Leute, die er gekannt, denen er vertraut hatte. So etwas kannte man bis dahin doch nur aus kommunistischen Diktaturen!

Wer genau diese Informanten waren, hat er nie herausgefunden. Die Akten, die er auf Anfrage zugeschickt bekam, waren akribisch geschwärzt, so dass keinerlei Rückschlüsse auf Ort, Zeit oder die beteiligten Personen gemacht werden konnten. Weshalb genau Köbi Hirzel zur potentiellen Gefahr erklärt wurde, weiss er bis heute nicht.

Seinen beruflichen Werdegang begann er als Schreinergeselle mit dem Ziel, einmal den Betrieb der Eltern zu übernehmen. Im Militär brachte er es bis zum Oberleutnant, was ebenso vorgesehen war, denn bereits der Vater war hoch dekoriert. «Ich war am Anfang noch sehr idealistisch und dachte, etwas in der Institution Militär verändern zu können – eine Utopie, wie ich bald feststellte.» Also blieb nur die Verweigerung – Militärverweigerung und nicht Dienstverweigerung notabene. Hirzel sass deswegen sechs Monate im Gefängnis. Er machte das Verfahren öffentlich und bezog auch öffentlich Stellung zu seinem Verhalten. Die Verhältnisse waren also klar, fichiert werden musste das nicht.

«Hallo auch an unseren Mithörer»

Einige Provokationen hatte er sich aber nicht verkneifen können, so hatte er beispielsweise die «Peking-Rundschau» abonniert, die während der WK ins Militär geliefert wurden. Ausserdem lebte er in einer der ersten WG der Stadt Schaffhausen. Das Haus war ein sprichwörtlich rotes Tuch in den Augen so mancher SchaffhauserInnen, und das auch noch über drei Etagen: Unten wohnten Mitglieder der POCH, in der Mitte solche der Revolutionären Marxistischen Liga und oben VertreterInnen der Juso/SP. Und natürlich wurde man überwacht, sagt auch Köbi Hirzels Partnerin Helen Zehnder: «Telefongespräche begannen wir oft mit Sätzen wie: ‹Denk dran, wir sind zu dritt›, oder ‹Hallo auch an unseren Mithörer›.» Die Überwachungen seien aber kein wirklicher Grund zur Sorge gewesen: «Wir waren jung, machten uns wenig Gedanken und pochten auf unser Recht auf freie Meinungsäusserung. Wir lebten diesen naiven Glauben an die Gedanken- und Redefreiheit eines Schweizer Bürgers.»

Wie schnell man zum Spionage-Ziel werden konnte, erfuhr auch Marcel Cuttat am eigenen Leib. Sein erster Eintrag erfolgte, nachdem Bekannte Plakate für eine unbewilligte Demo gegen das Waldsterben im Hauseingang der Genossenschaft «zur grünen Linde» deponiert hatten und dabei beobachtet wurden – als Bewohner der «Grünen Linde» wurde Cuttat sofort mitverdächtigt und fortan überwacht. Für ihn hatte die Überwachung tiefgreifende berufliche Konsequenzen: Er arbeitete damals als Systemanalytiker bei Siemens und sollte zur Betreuung der Armeecomputer eingesetzt werden. Dazu wurde er einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen, in deren Folge er ohne Begründung abgelehnt wurde.

Cuttat setzte alles daran, den Grund dieses Entscheides herauszufinden, stellte Fragen, hakte nach, bekam aber keine Antworten oder wurde schroff abgelehnt. Daraufhin begann er, sich dem Staat zu verweigern. Er folgte den Aufgeboten zum WK nicht mehr und füllte die Steuererklärung nicht mehr aus, was schliesslich auch rechtliche Schritte nach sich zog. «Mich machte extrem wütend, dass aufgrund falscher Informationen über mich entschieden wurde, und dies ohne jegliche Rechtsgrundlage. Dem Grossteil der Fichierten war es aber wohl mehr oder weniger egal, dass sie überwacht wurden.»

Trotzdem führte der Skandal zu einer Demonstration auf dem Berner Bundesplatz mit über 35’000 Personen. Auch Marcel Cuttat nahm daran teil, forschte weiterhin nach Antworten, musste aber einsehen, dass sein Aktivismus kaum etwas half: «Es änderte sich nichts. Es wurde und wird einfach weitergemacht. Irgendwann gibt man auf, weil es anstrengend ist, immer aufzupassen – auch heute noch. Man wird schnell fahrlässig.»

«Die Methoden sind noch die selben»

In Zeiten der um sich greifenden Angst vor Terror scheint das Vertrauen in die eigene Unbescholtenheit und in die offiziellen Organe heutzutage gross. Nur WENIGE STEHEN DER ÜBERWACHUNG KRITISCH GEGENÜBER. Zum eigenen Schutz würden die Menschen sogar noch mehr Kontrolle in Kauf nehmen, dies zumindest suggeriert eine Leserumfrage der «SN» anfangs Oktober: 62% der Befragten würden dem Schweizerischen Nachrichtendienst mehr Freiheiten bei der Überwachung zugestehen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges war die «Rote Gefahr» obsolet geworden, doch spätestens nach 9/11 hatte der Westen ein neues Feindbild gefunden: Terroristinnen und Terroristen. Offenbar Grund genug, weiterhin akribisch Daten zu sammeln, diesmal weltweit, digital und algorithmisiert. Die Enthüllungen durch Whistleblower Eduard Snowden sorgten zwar für einen Aufschrei, dieser allerdings ist mittlerweile längst verhallt, und alles geht seinen gewohnten Gang. Über die Gefahren, welche die fortschreitende Technikabhängigkeit mit sich bringt, sei es Cyberterror oder Datenmissbrauch, scheint sich niemand ernsthaft zu scheren.

Angesichts der viel perfideren Überwachungsmethoden, denen sich die meisten Leute auch noch gedanken- und kritiklos zur Verfügung stellen, wirken die Schweizer Fichen schon fast heimatlich-konservativ, ja archaisch. Helen Zehnder wünscht sich deshalb mehr Bewusstsein für das Problem in der breiten Bevölkerung: «Die Methoden sind doch immer noch dieselben, einfach globaler und noch mehr aus dem Ruder laufend.» Und früher wie heute werden diffuse Ängste geschürt, werden Feindbilder geschaffen und Konflikte von den Medien aufgebauscht, während die wirklichen Brandherde oft ganz wo anders liegen. «Früher waren die Strukturen viel klarer», sagt Zehnder, die nicht wissen möchte, was noch alles passieren muss, damit vielleicht ein Umdenken stattfindet.