Auslese
«In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin.»
Friedrich Nietzsche: Ecce Homo
Gehorcht nicht das Schreiben über sich selbst meist einem Gestus der gesenkten Lider? Ist es hierfür nicht oftmals die Demut des Menschenkindes im Anblick des Kosmos und des Seins, welche die Tinte in andächtigem Innehalten über das Papier streicht?
Was mag also das Menschengeschlecht gedacht haben, als Friedrich Nietzsche im Jahre 1908 auf allen Plätzen seine Kanzel über einem lodernden Scheiterhaufen errichtete, zu Steintafel und Meissel griff und schrie: Ich kenne mein Los! Dass der arme Mann von Sinnen sei?
Und er zürnte: Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenscollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war! Kicherten sie vielleicht mädchenhaft im Vorübergehen in ihre vorgehaltenen Hände, als sich der Zürnende die Brille aus dem Gesicht riss, auf sie richtete und keifte: Ich bin kein Mensch! Ich bin Dynamit! ? Hat man mich verstanden?, kreischte es fortwährend von der Kanzel – Hat man mich verstanden?
In seinem autobiographischen Werk mit sprechendem Namen «Ecce Homo» (ward dies nicht einst zu Jesus Christus gesagt?) wendet sich Nietzsche an seine verachteten Zeitgenossen und zeigt Kapitel für Kapitel nicht nur auf, weshalb er derart klug und weise sei, weshalb seine Bücher von solcher Bedeutung und Grösse seien, sondern letztlich vielleicht auch, auf welche Weise man sich mit ihm, der doch Schicksal für die Menschheit sei, auseinandersetzen möge. War es bereits der Wahnsinn, welcher den alternden Mann in diesen letzten Zügen nochmals dazu verleitete, in dionysischer Verkleidung auf den Gräbern der Moral herumzutoben, die Kirchen zu stürmen und schelmisch Schimpfworte in die heilige Messe zu rufen? Ist es doch der fortschreitenden Syphilis-Erkrankung zu verdanken, dass er auch ohne Kostümierung den Menschen zum Narren erklären wollte – oder hatte er gar die Zukunft geschaut?
Wie dem auch sei: Was Friedrich Nietzsche in «Ecce Homo» in autobiographischer Manier erschreibt, ist nur im ersten Aufschreien von überbordendem Grössenwahnsinn; im eigentlichen sind seine Worte schlicht wahnsinnig gross: Welch ein Prophet und welch ein Gekreuzigter, so kann man doch meinen, der sich an die Menschheit wendet und ihr ihre kleinbürgerliche Moral und die Verlogenheit ihrer Wahrheiten vorhält! Im Wissen darum, dass seine Schriften die Nachwelt, ihr Nachdenken über die menschliche Existenz und ihren Ausdruck, die Sprache, die Kunst nicht nur prägen, sondern gar erst auf neue Art und Weise ermöglichen würden, wendet er sich an seine geächteten Zeitgenossen und begeht dadurch auf eigentümliche Weise für seine Nachwelt gar einen humanistischen Akt: Hätte sich die expressionistische Malerei an ein anderes Bein geklammert? Hätte irgendwer der Existenzphilosophie die Wange gestreichelt und Foucault für dessen Theoretik von Sprechen und Macht die Grundzüge geflüstert? Hätte es ein anderer vermocht, durch die Darlegung seines Lebenswerks seine, angesichts seiner zuvor erschriebenen schicksalshaften Bedeutung, erniedrigten Leser dennoch in einen derartig süsslichen Rausch zu geleiten, dass sie – kaum den Portwein ausgetrunken – selbst zum dionysischen Tanz auf den Trümmern der Gräber ausrufen?