Auch die Schaffhauser Jugend träumte 1968 von der Revolution. Eine Collage aus Erlebnissen einiger 68er ergeben ein Bild der Zeit durch die Augen von Franz, fiktiver Sohn einer Arbeiterfamilie, Dylan-Fan und Schülerzeitungs-Redaktor.
Franz ist eine FIKTIVE PERSON. Seine Geschichte basiert auf realen Erlebnissen mehrerer Schaffhauser 68er. Die aufgeführten Ereignisse, Zitate und Namen entsprechen der historischen Realität.
Nur Franz ging es nicht besonders gut. Das lag freilich nicht an seinen materiellen Möglichkeiten, und auch sonst stand ihm so ziemlich jede Tür offen: Als Erster in der Familie würde er die Matura machen und studieren gehen. Ging alles nach Plan, würde er sie im Sommer 1970 in der Tasche haben. Gut, mittlerweile betrug die Quote der Schweizer Maturanden knapp zehn Prozent (1950: ca. vier Prozent), und dennoch war die Reifeprüfung für ihn, einen Sohn aus der unteren Mittelschicht, ungewöhnlich. Ingenieur könnte er werden. Oder Arzt. Was «Gescheites» halt. Dies machte Franz gelegentlich stolz, einerseits, und gleichzeitig liess das auch irgendwie ein Unbehagen in ihm aufkommen.
Er wollte später nicht in einem Schmelzofen schuften wie sein Vater, 45 Jahre lang, tagein, tagaus. Keinesfalls wollte sich Franz später ins kleinkarierte Schaffhauser Schema einfügen, das seit 30 Jahren vom Patriarchen Walther Bringolf gestaltet wurde. Franz fühlte sich seltsam unbequem. Er wollte die Welt erkunden, mit dem Velo oder sogar mit einer Vespa, nach Paris vielleicht, nach Berlin oder sonst wohin.
Zum Sozialisten bekehrt
Kam dieses Gefühl vom Ausland? Vielleicht. Denn Franz bewunderte die Protestbewegungen in den USA, in Paris, in Berlin, den radikalen «Wiener Aktionismus», die Rolling Stones, Dylan natürlich, und hatte einiges von Marx, Lenin und Trotzki gehört. Irgendwie fühlt er sich als Teil einer grossen, sich im Aufbruch befindenden Gemeinschaft. An der Kantonsschule hatte er schnell einige Gleichgesinnte getroffen, mit denen er eine Schülerorganisation aufbauen wollte. Auch eine Schülerzeitung war bereits in Planung.
Das verlangte schliesslich danach, neue GenossInnen zu rekrutieren, auch wenn das in Schaffhausen nicht ganz einfach war. Umso überraschender für Franz war, dass er eines Tages von Peter, einem Sohn aus mehr als gutbürgerlichem Haus, brav gescheitelt, auf dem Nachhauseweg angesprochen wurde. Er wolle da auch mitmachen, meinte Peter, bei ihrem Sozialismus und so.
Seine Bitte wurde nicht abgelehnt, und Franz stellte Peter seinen KollegInnen von der Schülerorganisation vor. Mit der Zeit fügte sich Peter auch ganz gut ein, fand Franz, bei all seiner Zurückhaltung: Er hörte coole Musik, liess sich die Haare wachsen, redete ab und an über Trotzki, Guevara und kam ganz im Allgemeinen nicht mehr gar so geschniegelt daher. Franz und seine Freunde freuten sich: Ein Junge aus reichem, bürgerlichem Haus, von ihnen eigenhändig bekehrt, das war schon eine Leistung. Was musste das für ein Schock für Peters Eltern sein!
Ein Spitzel im Dienst des Fichenstaates
Noch einmal würde Franz derart überrascht werden wie damals, als er von Peter angesprochen wurde. Das war 20 Jahre später, Ende der 80er-Jahre, nach dem Platzen des Fichenskandals (siehe Seite 36). Als er die über ihn angelegte Fiche bei der Kantonspolizei abholte, stiess er auf allerlei kuriose Einträge über ihn und seine spätere Kommune. Und dann blieb ihm plötzlich die Spucke weg. Unter diesen Daten befanden sich Informationen, Dialogmitschnitte, Fotos, die nur von einer Person stammen konnten: Peter.
Wie sich herausstellte, wurde der vermeintlich bekehrte Mitschüler von der Polizei angestellt, um Franz und seine KollegInnen von der Kantonsschule zu bespitzeln. Kein Wunder, dachte Franz, verschwand der nach der Kanti schnurstracks.
Am 28. Juni 1968 ging Franz erstmals auf die Strasse, an eine Demo auf dem Schaffhauser Kirchhofplatz, um mit 400 weiteren Personen auf die Not der Bevölkerung im nigerianischen Teilstaat Biafra aufmerksam zu machen. Die Aktion verlief ganz gesittet, 17’000 Franken wurden gesammelt, so dass sie sogar von den bürgerlichen «SN» goutiert wurde («Auf den Spruchbändern fand man keine tendenziösen Slogans, sondern die einfache Wahrheit: Hunger und Tod in Biafra – wir müssen helfen.»).
Franz setzte sich am Abend noch mit den Organisatoren, zwei Studenten, zusammen, und diskutierte angeregt über die aktuellen Ereignisse in der Welt. Vornehmlich über den Vietnamkrieg, worüber sonst, über «Agent Orange», Entlaubungsmittel, die Napalm-Angriffe. Über die schrecklichen Bilder von hilflosen Kindern, die erstmals durchs Massenmedium Fernsehen um die Welt gingen.
Den Globuskravall verpennt
Am 29. Juni 1968 forderten jugendliche ÂDemonstrantInnen in ÂZürich die Einrichtung eines autonomen Jugendzentrums. Die daraus entstandene Auseinandersetzung mit der Polizei ging als Globuskravall in die Geschichte ein.
Es wurde spät, und Franz hatte zwei, drei Gläser Absinth zu viel intus, als er Richtung Kommune in der Krummgasse mäanderte, in der einige Freunde wohnten. Einen Schlüssel, immerhin, brauchte er nicht mühevoll ins Schloss zu manövrieren – die Wohnung war sowieso nie abgeschlossen. Das führte zum einen dazu, dass allerhand obskure Gestalten den Weg in die Kommune fanden, andererseits musste Franz nun nicht auf den Emmersberg zu seinem Elternhaus laufen. Etwas schwummrig im Kopf, aber doch zufrieden, schlief er wenig später auf einer herrenlosen Matratze ein.
Die Sonne stand schon hoch, als Franz aufwachte. Es war Samstag, der 29. Juni 1968, und vor dem Globusprovisorium in Zürich wurden gerade die ersten Flaschen und Steine gegen die Polizisten geworfen. Die wiederum antworteten mit Knüppelhieben, erbarmungslos, wie man es in der Schweiz kaum je gesehen hat. Und auf dem WG-eigenen Plattenspieler lief gerade Dylans Song «With God on our Side».
«Rülpser von der Kanti»
Zusammen mit einigen anderen gründete Franz anfangs 1969 die Schülerzeitung «Gilb». Die eigenständige Zeitung, eigentlich eher eine Flugschrift, war selber beschrieben und kopiert, auf farbiges A4-Papier. Klar, die Mittel waren beschränkt, layouterisch wie redaktionell, aber das kümmerte Franz und seine MitschülerInnen herzlich wenig. Im Gegenteil, die Einleitung des ersten Heftes, fand er, war doch ziemlich gelungen. In kleinen Lettern stellte sich der «Gilb» selbst vor: «ich warne euch: ich bin unberechenbar, kritisch, tendiere nach rechts mit einem leichten linksextremen einschlag und befinde mich meistens in der mitte.»
Der «Gilb» stiess umgehend auf negative Resonanz, insbesondere in den «Schaffhauser Nachrichten». Ein gewisser Herr Dutli, Redaktor, wollte sich nun beim besten Willen nicht für das «infantile« und «absolut ungepflegte» Organ erwärmen. Als «Rülpser von der Kantonsschule» bezeichnete er den «Gilb» gar und bemängelte die falsche Verwendung der Passivkonstruktion. Ebenso die Orthographie: «mangelhaft», «nicht angemessen». Seine Kritik schliesst Dutli mit folgenden Worten: «Dies ist kein Verriss, sondern ein durchaus wohlwollendes Echo auf einen Versuch, dem ich, hätte es mir zum Lehrer gereicht, die Note 3–4 erteilen würde.»
Umgehend verfassten Franz und seine SchreiberkollegInnen eine Antwort an Redaktor Dutli, die am am darauffolgenden Tag in den «SN» publiziert wurde, ungekürzt überdies. «Hiermit üben die ‹jungen Aktivisten› Selbstkritik», heisst es darin, «indem sie allen Lesern unseres ‹Kantirülpsers› folgendes versprechen:
1. Wir werden unsere ungepflegte Aufmachung ab sofort verbessern. Die Verantwortlichen haben ihre Schuld vor der versammelten Gilb-Redaktion eingestanden und um Verzeihung gefleht. Wir haben ihnen Absolution erteilt.
2. Wir schwören hoch und heilig, nie wieder falsche Passivkonstruktionen durchgehen zu lassen. Um unseren guten Willen zu zeigen, haben wir diesen Brief von vier Deutschlehrern korrigieren lassen. […] Nehmen Sie bitte unseren Dank für Ihr wohlwollendes Echo entgegen. Sie hätten wirklich nicht betonen müssen, dass Ihr Artikel kein Verriss sei, denn auf diese Idee wären wir nun wirklich nicht gekommen.»
Der «Gilb», inklusive der Schülerorganisation, hatte es jedoch schwer mit seinem Vorhaben, aktiv Schulpolitik zu betreiben. Die Beteiligung der anderen KantischülerInnen bei schulpolitischen Fragen blieb relativ gering. So wurde die Zeitung Ende 1970 eingestellt. An seine Stelle trat der «Contitl», ein gemeinsames Projekt von Schülern und Lehrern, doch weder Franz noch seine Mitschreibenden waren von diesem Kompromiss begeistert. Nach nur einer Ausgabe wurde auch der «Contitl» ad acta gelegt. Etwas später wurde wieder eine eigene Zeitung gegründet, der «Bumerang», der erfolgreich über drei Jahre publiziert wurde (bis 1972), bei der Franz mit Hingabe mitschrieb, redigierte, vertrieb.
Kapitalismus ankurbeln im Hotel Bahnhof
Wie viele Lehrlinge und KantonsschülerInnen sass auch Franz mangels eines Jugendhauses oft und lange im «Isebähnli» in der Löwengasse, einem günstigen Selbstbedienungsrestaurant. Oder gleich daneben, auf der Treppe zum Bahnhof hinauf. Und zwar stundenlang vor ein und derselben Cola, um Hausaufgaben zu machen, was doch hie und da vorkam, um zu rauchen, laut Musik zu hören und ab und an einen besonders spiessig aussehenden Passanten blöd anzumachen. Eines Tages aber, am 17. Juni 1971, hatte der grummelige Herr Graf, der Wirt, die Nase voll von diesem revolutionären Trubel und warf Franz und Konsorten aus dem Café – zum Teil mit brachialer Gewalt.
Danach setzten sich Franz und 20 weitere Nasen kurzerhand auf die Terrasse des Hotels «Bahnhof», das auch dem «Isebähnli»-Besitzer gehörte. Sie wollten sich etwas zum Trinken bestellen, den Kapitalismus ankurbeln, doch anstatt der Bedienung erschien prompt die Polizei. Franz, den man als einer der Rädelsführer ausmachte, wurde nach einem kleinen Gerangel auf den Posten gebracht, dicht gefolgt von einer johlenden, langhaarigen Menge.
«Polizei – Schlägertruppe der Kapitalisten»
Drei Tage nach dem Klamauk im «Isebähnli» und im Hotel «Bahnhof» kam der latent schwelende Generationenkonflikt mit einem Knall ans Mondlicht. In der Nacht auf Sonntag geschah nämlich, was am Montag unter dem Titel «Sechs junge Schmierfinken probten in Schaffhausen den Aufstand» in den «SN» publik gemacht wurde.
Die «Schmierfinken», sechs Lehrlinge im Alter von 17 bis 20 Jahren, hatten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unzählige Gebäude in der Altstadt mit Schlagworten und Slogans vollgesprayt. «Nieder mit der Scheindemokratie (Scheisse)» stand da etwa. Oder «CH=Polizei=Macht=Presse». Dazu klebten die Lehrlinge (erst gegen drei Uhr morgens auf frischer Tat ertappt) zahlreiche Flugblätter an die Mauern der Innenstadt, auf denen der Titel «Polizei – Schlägertruppe der Kapitalisten» und daneben eine Zeichnung von drei Langhaarigen prangte. Weiter stand da: «Wir rentieren nicht» und «Wer lange Haare hat, soll ein Hascher sein».
Wie auch andere KantischülerInnen begegnete Franz der Aktion mit intellektueller Herablassung, gar Verachtung. Die illegale Tat passte Franz überhaupt nicht, er wurde richtiggehend wütend, denn mit jener Kampagne sah er seine Ideale so gut wie durch den Dreck gezogen. Das sahen seine Freunde vom «Bumerang» ähnlich. Der «minimale Bildungsstand» der Verantwortlichen, schrieben Angelo Gnädinger (Präsident der Schülerorganisation) und Kurt Schaad am 27. Juni, verurteile die «Stifte» dazu, nichts als «Sand im Getriebe» zu sein. Franz und seine MitschülerInnen waren nicht bereit, sich komplett und in aller Antiautorität gegen das Establishment zu stemmen. Vielmehr hatten sie sich mit der Gründung der demokratisch gewählten Schülerorganisation als offiziellem Gesprächspartner von Schulleitung und Lehrerschaft bereits ins System eingegliedert.
Das Schicksal der Schaffhauser Jugendbewegung war damit besiegelt, der «Höhepunkt» des unmittelbaren «Widerstands» erreicht. Wegen der verschiedenen Interessen, des Streits um die Form des Protestes und gegenseitigem Misstrauen driftete die Bewegung nach und nach auseinander – wie in den meisten anderen Städten, ob Paris, New York oder Zürich.
Und Franz? Der hatte nun seine Matura im Sack, eine Ehrenrunde hatte es doch noch gegeben. Nun wollte er nach Zürich, Jura studieren. Nicht gerade ein Medizinstudium, hatte sein Vater gesagt, aber doch was «Rechtes». Damit konnte Franz gut leben.
Folgenlos für Schaffhausen blieb «1968» trotzdem nicht, gerade in politischer Hinsicht. Nachdem die «Bumerang»-Redaktoren 1972 nach einem scharfen Artikel gegen die Lehrmethoden eines Physiklehrers von der Schulleitung gezwungen waren, die Zeitung einzustellen, traten sie der SP bei. Später würden sie in der «Gruppe Kommunalpolitik», 1975 von Hans-Jürg Fehr, Angelo Gnädinger, Bernhard Ott, Andreas Giger u. a. gegründet, noch für Aufsehen sorgen – nicht zuletzt auch dank ihres Monatsblattes «Info» (siehe Seite 33). Damit schufen die jungen SP-Leute ein Gegenstück zur gut organisierten POCH (Progressive Organisationen der Schweiz) Schaffhausen um Daniel Leu, Ulrich Wickli und Silvia Grossenbacher.