«Bitte nicht weinen!»

Ein Blick in die historischen Quellen zeigt: Schon lange bevor es «Schaffhauserland Tourismus» gab, strömten Fremde in unsere Region. Chef-Standortförderer war seit dem Mittelalter der Rheinfall.

Unter den Hoteliers rund um den Rheinfall herrschte ein erbitterter Konkurrenzkampf: Die Betreiber auf Schloss Laufen und diejenigen des Dachsemer Hotels Witzig PIESACKTEN SICH GEGENSEITIG, indem etwa der Pferdeomnibus des Hotels nicht in den Schlosshof einfahren durfte und den Gästen somit der Weg zum Rheinfall erschwert wurde.
Bild: Historische Darstellung der Rheinfallbeleuchtung © Museum zu Allerheiligen

Der Heilige Konrad von Konstanz beobachtet zwei Vögel, die ruhelos über dem Rheinfall kreisen – und erkennt in ihnen sündige Seelen, die so für ihre Vergehen büssen müssen. Diese Legende ist die früheste schriftliche Quelle, die den Rheinfall erwähnt, obschon er darin eher eine Nebenrolle spielt – schliesslich geht es um die Vögel. Sichere Belege für Rheinfallbesuche um des Rheinfalls willen gibt es ab dem 15. Jahrhundert; ohne Zweifel waren die Menschen aber auch schon vorher von den tosenden Wassermassen fasziniert.

Wie wir im letzten Sommer erfahren durften, gab es aber auch andere Gründe, die Stadt zu besuchen, nämlich um den Ritterspielen beizuwohnen – so berichteten bereits zwei Spanier, die während ihrer Teilnahme am Basler Konzil einen Abstecher nach Schaffhausen machten, ausführlich von diesem Schauspiel.

«ein grausam ding zuo sehen»

Der älteste Reisebericht stammt ebenfalls von einem Konzilteilnehmer, einem italienischen Humanisten mit dem klingenden Namen Francesco Poggio di Bracciolini. Er reiste um 1416 von Konstanz nach Baden, kam am Rheinfall vorbei und verglich diesen grosszügig mit den Wassern des Nils. Wie aus zeitgenössischen Chroniken herauszulesen ist, waren es das «Grauen und die geheime Lust am Schauspiel» (und die schiere Übertreibung), die sich in den ersten Reiseberichten vermischten. «Es ist ein grausam ding zuo sehen», schrieb zum Beispiel der Basler Kosmograph Sebastian Münster um 1544, von dem übrigens auch die allererste bekannte Darstellung des «cataracts» stammt. Erst später wurde der Rheinfall dann doch auch aus ästhetischen Gründen geschätzt.

Ausser dem Besuch des Rheinfalls hatte Schaffhausen in den Augen der ersten Reisenden offensichtlich nicht viel mehr zu bieten, bezeichnend ist da die knappe Notiz des französischen Philosophen Michel de Montaigne, der um 1580 in der Stadt logierte: «In Schaffhausen sahen wir nichts Besonderes». Beeindruckt vom Rheinfall waren sie allerdings alle, allein Goethe war ganze drei Mal da.

10 Gänge für 18 Franken

Die Schweiz galt lange als «unkultiviertes und bergfinsteres» Land, das touristisch gemieden wurde. Erst im späten 17. Jahrhundert erfuhr der Schweizer Tourismus einen Aufschwung. Dem Ruf Rousseaus folgend, besinnten sich Bildungsreisende «retour à la nature» und erkundeten die «Seltsamkeiten» der europäischen Landschaften. Auch erste Reiseführer entstanden in jener Zeit, die – ganz im Geiste der Aufklärung – auch mit moralischen Ratschlägen nicht geizten. Der Zürcher Arzt Salomon Schinz etwa schrieb im 18. Jahrhundert, man solle angesichts des Rheinfalls bitte nicht in Tränen ausbrechen, sondern besser die fremden Sitten beobachten und das Gespräch mit den Einheimischen suchen.

Mit dem Bau der Eisenbahnstrecke Winterthur – Schaffhausen (1857) mit Halt unmittelbar am Rheinfall, der Badischen Bahn (1863) und der Eglisauer Linie (1897) war der Rheinfall schon früh bestens erschlossen. Um 1900 gab es sogar eine DIREKTVERBINDUNG VON PARIS und einen Salonaussichtswagen von Frankfurt bis an den Rheinfall.

Eine Reise in die Schweiz galt unter wohlhabenden BürgerInnen bis um 1850 als «en vogue»; ein Besuch des Wasserfalls stand ganz oben auf der «Must-have-seen»-Liste. Und auch danach blieb der Rheinfall gut besucht: Das goldene Zeitalter der Hotellerie begann. Der erfolgreiche Hotelbesitzer Franz Wegenstein baute die ehemalige Gaststätte Weber nach und nach zu einem mondänen 5-Sterne-Palast an bester Lage aus, welcher hochrangige Gäste wie das österreichische Kaiserpaar Elisabeth und Franz Joseph beherbergte. Den 10-Gänger gab’s für 18 Franken.

Lauschiges Mühlental

Der Besuch des Rheinfalls war anfangs vor allem den wohlhabenden Gästen aus ganz Europa vorbehalten. Einheimische suchten Erholung zum Beispiel im nahen Mühlental, das vor seiner industriellen Erschliessung noch ein lauschiges Plätzchen mit Wasserfällen und schattigen Bäumen war. Auch der Randen wurde erst spät als Ausflugsziel entdeckt. Mit dem Bau der Aussichtstürme bot auch er bald ein attraktives Ziel für Tagesausflüge.

Entspannung der besonderen Art fanden Einheimische aber bereits ab dem 16. Jahrhundert im Bad Osterfingen, das für sein heilsames Quellwasser bekannt war. Doch schon bald war das Bad – da mehr Freudenhaus als Kurort – der Obrigkeit ein Dorn im Auge und als «Sündenpfuhl im Klettgau» verschrien. Das Problem erledigte sich dann von selbst, als ein Schaffhauser Apotheker im 19. Jahrhundert das Quellwasser untersuchte und für absolut gewöhnlich befand.

Erst ab 1900 wandelte sich der Tourismus am Rheinfall zunehmend zu einem Zentrum des «Volkstourismus». In dieser Zeit begannen sich die Tourist­Innen auch für andere Orte im Kanton zu interessieren, Stein am Rhein zum Beispiel wurde erst jetzt als Ausflugsziel entdeckt. In den Fünfzigerjahren entwickelte sich der Tourismus zu dem wichtigen Wirtschaftszweig, der er heute ist.

Siamesischer König zu Besuch

Um 1900 begann sich aber auch der Niedergang der Hotellerie am Rheinfall abzuzeichnen. Gründe dafür waren unter anderem die veränderten Reisegewohnheiten der TouristInnen. Mit dem Fortdauern des Eisenbahnzeitalters begnügten sich die Gäste mehr und mehr damit, den Rheinfall als Tagesausflug zu besuchen und am Abend wieder nach Hause zu fahren, obwohl sich die Hoteliers in Neuhausen quasi in einem letzten Aufbäumen alle Mühe gaben, die TouristInnen zu einem längeren Aufenthalt zu bewegen. Dazu gehörte auch die Rheinfallbeleuchtung, die 1855 das erste Mal durchgeführt wurde – vor 1900 eher sporadisch zu besonderen Anlässen und mit einfachem bengalischem Feuer, später mehrmals im Jahr. Mit dem Besuch des Königs von Siam, der 1907 mit grossem Gefolge drei Tage im «Schweizerhof» verbrachte und ein letztes Mal an die einstigen Glanzzeiten der Neuhauser Hotellerie erinnerte, endete die Belle Epoque des Tourismus. Nicht einmal sechs Jahre später musste das Hotel Schweizerhof den endgültigen Konkurs anmelden.

Zusätzlich vereinfachten die verbesserten Verkehrswege das Reisen in die Alpen, wo die Touristenzentren zulasten des Rheinfalltourismus zu blühen begannen. Letzten Endes war es aber der grosse Wandel Neuhausens zum Industriestandort, der mit dem Tourismus nicht kompatibel war. Die Frage nach der Koexistenz von Gewerbe und Wasserfall, dessen «natürliche Schönheit» erhalten werden sollte, führte zu hitzigen Diskussionen, die sich bald auf die Seite der wachsenden Industrie schlugen, da sie der Gemeinde zukunftsträchtiger erschien als die serbelnde Hotellerie.

Seit Konrads ornithologischen Beobachtungen ist – Achtung Metapher – viel Wasser den Rhein runtergeflossen, die Grundprämisse blieb die gleiche: Seit den Anfängen des Tourismus im Kanton Schaffhausen im Allgemeinen und am Rheinfall im Besonderen wurde viel investiert, die BesucherInnen mit attraktiven Angeboten zum Bleiben zu bewegen – während diese abends, berauscht oder auch nicht von den tosenden Wassermassen, lieber wieder in ihre Autos steigen und nach Hause fahren.