Weissmaler am Werk

Mehrere Wandgemälde in den Hallen für neue Kunst wurden weiss übermalt. Darf man das?

Bilder: Peter Pfister

Die Hallen für neue Kunst sind Geschichte: Der Rechtsstreit um die Eigentumsrechte des «Kapitals» trieb die Stiftung in den Konkurs, Urs und Christel Raussmüller haben ihre Sammlung nach Basel abtransportiert, das «Kapital» wurde nach Berlin verkauft und die Stadt lässt ein neues Nutzungskonzept für das Gebäude ausarbeiten. In der langen und teilweise kuriosen Affäre um das Ende der Hallen macht ein Aspekt stutzig, der bisher wenig Beachtung findet: Urs Raussmüller hat diejenigen Kunstwerke, die direkt an den Wänden der «Hallen» angebracht waren, weiss übermalt.

Betroffen sind vor allem Arbeiten des Amerikaners Sol LeWitt. Acht seiner Werke waren in den «Hallen» zu sehen, sechs davon waren Wandgemälde. An ihrer Stelle sind heute nur noch weisse Wände zu sehen. Von denjenigen Bildern, die eine oder mehrere Wände vollständig ausfüllten, bleibt ein schmaler Streifen ganz unten, den die Handwerker (oder Urs Raussmüller selbst) nicht übermalt haben, damit der Fussboden keine Flecken abbekommt.

Raussmüller: Kein Kommentar

Das Werk «Three-part drawing: A six-inch grid covering the walls …» (1978) von Sol LeWitt und was davon übrig blieb (oben). Der AMERIKANISCHE KÜNSTLER SOL LEWITT (1928–2007) war ein früher Vertreter und wichtiger Theoretiker der Konzeptkunst, bei der die Idee des Künstlers wichtiger ist als die sichtbare Form des Kunstwerks.

Warum hat Urs Raussmüller die Bilder übertüncht? Durfte er das? Der «Lappi» stellte Urs und Christel Raussmüller per Mail eine ganze Reihe Fragen. Sie blieben unbeantwortet, ein Mitarbeiter teilte lediglich mit, dass sich Raussmüllers nicht mehr zur Schliessung der «Hallen» äussern wollen.

Seit Sommer 2014 ist auf Raussmüllers Webseite zu lesen: «Die Raussmüller Organisation hat die Hallen für Neue Kunst am bisherigen Standort Schaffhausen geschlossen. Sie hat ihre Kunstwerke abgebaut und transportiert, die Leihgaben restituiert und die Büros verlagert.»

Was bedeutet das für die Werke von Sol LeWitt? Wie soll man Bilder, die direkt auf der Wand angebracht sind, «abbauen» und «transportieren»? Wenn manche Experten der Meinung sind, man könne Beuys‘ «Kapital» nicht abtransportieren, ohne es zu zerstören, gilt das für Wandgemälde nicht erst recht? Der «Lappi» hat sich mit Schaffhauser Kunstsachverständigen über diese Fragen unterhalten.

Katharina Bürgin, Künstlerin und Mitglied des Kuratorenteams der Vebikus Kunsthallen, hat während vieler Jahre in den «Hallen» für neue Kunst gearbeitet und bezeichnet Sol LeWitt als einen ihrer Lieblingskünstler. «Raussmüller durfte die Bilder übermalen», sagt sie. Es handle sich um Konzeptkunst: «Nicht die Ausführung, sondern das Konzept ist das Kunstwerk.»

Ausführung durch Andere

Sol LeWitt war einer der zentralen Vordenker der Konzeptkunst. Bei dieser modernen Kunstrichtung steht die Idee, das Konzept des Künstlers, im Vordergrund, nicht das sichtbare Bild, die Ausführung. Deshalb werden die Werke der Konzeptkunst oft nicht durch den Künstler selbst ausgeführt – dieser übergibt lediglich die Idee mit präzisen Anweisungen zur Ausführung.

Als die Hallen für Neue Kunst in den Achtzigerjahren entstanden, war Sol LeWitt nicht vor Ort. Mehrere Schaffhauser Kunstschaffende übernahmen unter der Leitung von Sol LeWitts Assistent Anthony Sansotta die Ausführung, trugen die Gemälde mit Bleistift und Farbe auf die Wände der «Hallen» auf. Eine, die daran mitarbeitete, ist die Künstlerin Leo Bettina Roost. «Sol LeWitt wusste genau, wie das Werk in Schaffhausen aussehen würde, er gab präzise Anweisungen und überliess nichts dem Zufall», erklärt sie. Roost findet es traurig, dass die Werke nicht mehr in Schaffhausen zu sehen sind. Doch sie weiss auch: Die Anweisungen des Künstlers, die Konzepte, die jedes der Kunstwerke ausmachen, sind nach der Übermalung nicht verloren, Raussmüller kann die sichtbare Form der Wandgemälde an einem anderen Ort wieder herstellen lassen. Man könnte also sagen: Raussmüller hat die Kunstwerke mit dem Übermalen nicht zerstört, sondern mitgenommen.

Besitz passt nicht zu Konzeptkunst

Dennoch findet es auch Katharina Bürgin schade, dass die Werke in Schaffhausen geweisselt wurden, solange nicht klar ist, ob, wann und wo sie wieder zu sehen sein werden. Sie empfindet das Übermalen als Trotzreaktion, die «keine Grösse» zeige. «Raussmüller hat damit eine Komponente von Besitz ins Spiel gebracht, mit der Konzeptkunst eigentlich nichts zu tun hat.» Zerstören könne man ein konzeptuelles Kunstwerk ohnehin nicht.

André Bless, Künstler, Mitglied des Vebikus-Vorstands und des Kuratoriums, ergänzt: «Sol LeWitt hat die Konzeptkunst sehr konsequent durchgezogen.» Man müsse sich das so vorstellen, dass auch einfache Arbeiten präzise festgelegt worden seien. «Beispielsweise kann man für einen Bleistiftstrich die Härte des Bleistiftes, den Anspitzungsgrad und sogar das Tempo, mit dem der Strich ausgeführt wird, vorschreiben.» Diese Anweisungen seien in einer Schachtel oder einem Koffer aufbewahrt und bildeten das eigentliche Konzept – Bless verwendet auch die Worte «Patent» und «Lizenz», um das Wesen der Konzeptkunst zu beschreiben.

Der Pinsel war das letzte Wort

Auch André Bless ist der Ansicht, dass Raussmüller im Recht war, als er die Bilder übermalte. Aber: «Schon früher hat Raussmüller der Stadt immer wieder zu spüren gegeben, dass er den Standort in Schaffhausen nicht nötig habe und seine Sammlung auch anderswo ausstellen könnte», sagt Bless. «Mit dem Übermalen wollte er wohl zeigen, dass er das letzte Wort hat.»

Zerstört sind die sechs Sol LeWitt-Werke nicht. Weil sie derzeit aber nirgends zu sehen sind, macht das für KunstfreundInnen, die sie gerne betrachten würden, aber keinen Unterschied. Und ob sie je wieder sichtbar werden, ist unklar; der neue Sitz der Raussmüller Collection neben der Roche-Kehrichtverbrennungsanlage ist ein fast fensterloser Klotz – kein Vergleich zu den lichtdurchfluteten «Hallen» in Schaffhausen. Raussmüller liess verlauten, zu einem «noch nicht bestimmten Zeitpunkt» solle seine Sammlung «periodisch der Öffentlichkeit zugänglich sein». Manche Experten zweifeln daran, dass sich das Gebäude in Basel überhaupt für eine öffentliche Ausstellung eignet.