Krümel und Kontaktverbot

Die grösste sektenhafte Gruppierung der Schweiz macht AussteigerInnen das Leben schwer. Eine ehemalige Zeugin Jehovas erzählt.

«Meine Tante legte sich immer ein Küchentuch auf den Kopf, bevor sie das Gebet sprach. Ich fand das unheimlich lustig, vor allem, weil sie das Tuch aus dem Brotkorb benutzte und sie deshalb ab und zu Krümel im Haar hatte. Ich konnte mir das Kichern manchmal nicht verkneifen.»

Claudia* war damals neun Jahre alt und, wie sie selbst erzählt, schon sehr gläubig. Wir schlendern dem Lindli entlang und suchen uns ein ruhiges Plätzchen am Wasser. «Ich bin etwas paranoid», sagt Claudia. «Aber es ist mir lieber, wenn nicht alle mitkriegen, dass es meine Geschichte ist. Kaum jemand in meinem Umfeld weiss, dass ich mal dachte, zum auserwählten Volk zu gehören. Und das ist gut so.

Ich glaubte tatsächlich an das jüngste Gericht und an die Auferstehung aller Toten. Ich glaubte, dass die Weltkriege Zeichen der Endzeit seien und dass Dämonen mich täglich in Versuchung führen würden.»

Die Kindheit von Claudia wurde durch Bibellehre, Gebete und Missionierung geprägt, von Verboten, Kontrolle und Schuldgefühlen gezeichnet. Ihr «Familiengeheimnis» ist die ehemalige Mitgliedschaft bei der christlichen Religionsgemeinschaft «Zeugen Jehovas». «Wir sprechen eigentlich nie darüber», sagt Claudia. Die betende, von Brotkrümeln übersäte Tante sieht Claudia sehr selten, ihre Eltern haben zu den Verwandten keinen Kontakt mehr, seit Jahren nicht.

Claudia und ihre Familie scheinen einen Teil ihrer Vergangenheit zu verdrängen. Abgesehen von jenen Tagen, an denen die Mutter von Claudia trotz allem versucht, ihre Schwägerin zu erreichen, SMS ins Nirvana schickt. An solchen Tagen sage die Mutter, dass die blöden Regeln ja für sie nicht mehr gelten würden und sie sich darum auch nicht daran halten müsse, Kontaktsperre hin oder her. Sie sehe ja, dass die Nachricht angekommen sei und gelesen werde.

Weltweites Imperium

Die religiöse Gemeinschaft, die von der Fachstelle «InfoSekta» als grösste sektenartige Gruppierung in der Schweiz bezeichnet wird, zählt nach eigenen Angaben hierzulande 19’000 Mitglieder, weltweit seien es acht Millionen Menschen in 239 Ländern. Die Mitglieder glauben an den kommenden Weltuntergang, an die Vernichtung aller Ungläubigen durch Gott und an das ewigwährende Paradies auf Erden danach.

Im «KÖNIGREICHSSAAL» an der Rheinstrasse beten die «ZeugInnen» Jehova an. Bunte Broschüren geben biblische Anweisungen für jede Lebenssituation.

Durch Missionierung versuchen sie möglichst viele Menschen zur «Wahrheit» zu bekehren. «Acht bis zehn Stunden Missionsarbeit pro Woche werden erwartet» sagt Claudia. Dazu kommen drei wöchentliche Gottesdienste und mehrtägige Kongresse.

Die Zeugen Jehovas sind geschäftige Leute und haben ein Bibel-Imperium aufgebaut: Smartphone-Apps, ein moderner Webauftritt, Online-Bibelkurse und eine riesige Bibliothek aus Zeitschriften, Broschüren, Ratgebern, Lexika und Leitbüchern sind nur einige der Missionierungsmittel. Die Gemeinschaft ist ein multinationales Unternehmen mit Hauptsitz in New York und unzähligen Zweigbüros, die mehr als 115’000 Gemeinden dirigieren. Führt man sich die Grösse und die Vernetzung der sogenannten «Wachtturm-Gesellschaft» vor Augen, geht es wahrscheinlich um einen Umsatz in Milliardenhöhe.

Immer wachsam gegen Satan

Claudia erinnert sich an die hölzernen Spendenkassetten im Versammlungsraum – genannt Königreichssaal – in welche auch sie regelmässig Münzen und kleine Scheine steckte. «Ich war immer sehr stolz, wenn ich meinen Beitrag leisten konnte. Die Ältesten standen in der Nähe und beobachteten den Gang zum Geldtopf. Kinder wurden für ihre Hingabe zu Gott und zur Gemeinschaft besonders gelobt.»

Die Mitglieder gehen zwar arbeiten und besuchen die Schule, aber ansonsten grenzen sie sich klar ab. «Die Zeugen Jehovas gehen davon aus, dass die Welt voller teufl ischer Einflüsse ist und dass man nur durch das Einhalten vieler Regeln ein gottesfürchtiges Leben führen und zum Volk Gottes gehören kann.» Die hierarchische Gemeinschaft setzt auf «pastorale Kontrolle»: «Die Ältesten besuchen die Mitglieder zuhause, stellen Fragen und erkundigen sich nach dem Wohlergehen jedes Einzelnen», erzählt Claudia. Untaten sühnt die Gemeinschaft intern und straft durch Ausgrenzung und systematische Schuldzuweisung. Die Mitglieder müssen gegen die Versuchungen Sa‘tans und dessen Dämonen ankämpfen und stets wachsam sein.

Die Zeugen Jehovas kennen keine Feiertage. Geburtstage und Weihnachten sind besonders geächtet. «Als ich das erste Mal meinen Geburtstag gefeiert habe, meinen fünfzehnten, war das merkwürdig. Ich hatte mir jahrelang eingeredet, dass es egoistisch und lasterhaft sei, mich zu feiern», erinnert sich Claudia.

«Ich war wahnsinnig eifrig und besserwisserisch», berichtet sie. «Ich hatte kein Problem, meine Lehrer als Unwissende hinzustellen, wenn es um die Evolution ging. Ich war unausstehlich, dabei hatte ich das selbstständige Denken völlig ausgeschaltet.» Das Bild eines kleinen Mädchens, das im Unterricht zwanghaft versucht, gegen die Mühlen der Wissenschaft anzukämpfen und neunmalklug das «wahre Wort Gottes» verkündet, lässt mich nicht los. Sie aber ist wütend und rupft mittlerweile Grasbüschel aus dem sandigen Boden.

Wir kommen auch auf die Haltung zur Bluttransfusion zu sprechen. Die Zeugen Jehovas lehnen Transfusionen strikt ab. Bei gravierenden Unfällen oder bei Komplikationen während der Geburt kann das den Tod bedeuten. ÄrztInnen, die sich über das Verbot hinwegsetzen, werden regelmässig verklagt.

Die Zeugen Jehovas haben speziell dafür gegründete Komitees und prozessieren im Namen Gottes. Das, weil es im alten Testament heisst, man solle kein Blut zu sich nehmen: «Ihr sollt nicht das Blut von irgendeiner Art Fleisch essen, weil die Seele von jeder Art Fleisch sein Blut ist. Jeder, der es isst, wird [vom Leben] abgeschnitten werden.» Claudia schüttelt nur den Kopf und erzählt, dass sie Familien kenne, die ihre Angehörigen sterben liessen, weil man sie ja nach dem jüngsten Gericht wiedersehe.

Als Claudia merkte, dass sie jahrelang einer Sekte angehört hatte, war der Schock gross: «Ich realisierte erst später, einige Zeit nach dem Ausstieg, dass die Zeugen Jehovas eine extreme christliche Gemeinschaft bilden und an fantastische Zustände glauben. Ich fühlte mich unfassbar dumm. Als hätte ich bis fünfzehn an den Weihnachtsmann geglaubt.» Sie sei nicht vorsätzlich belogen und angeschwindelt worden, Gehirnwäsche und Fanatismus gab es trotzdem.

Claudia kann und will die Zeugen Jehovas nicht nur als irrationale FundamentalistInnen sehen, schliesslich sind viele ihrer Familienmitglieder dabei. Cousinen, die mit ihr aufgewachsen sind, Tanten und Onkel, zu welchen sie eine enge Bindung hatte. Menschen, die heute nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Die ihr beim Abschied weinend deutlich gemacht haben, dass sie auf keine Kontaktaufnahme reagieren würden, dass sie sie lieb hätten, sie aber eine Sünderin sei und geächtet werde. Der Kontakt zu AussteigerInnen ist für Zeugen Jehovas ein schweres Vergehen.

«So ein Scheiss»

Heute ist Claudia glücklich, dass ihre Eltern den Mut fanden, die Zeugen Jehovas zu verlassen. Die Frage nach dem Grund des Ausstiegs habe ich mir bis am Schluss aufgehoben. Claudia schaut auf den Rhein und lächelt leicht schief: «Meine Eltern wollten sich nicht mehr sagen lassen, wie sie zu leben hatten. Mein Vater wollte selbstbestimmte Entscheidungen treffen, meine Mutter konnte gewisse Teile der Lehre nicht akzeptieren – ihren Kindern im Notfall Bluttransfusionen verweigern zu müssen, wäre für sie unmöglich gewesen. Und als die Ältesten anfingen, uns die Ausbildung madig zu machen und uns in religionsinterne Bildungsgänge zu drängen versuchten, war es vorbei», antwortet Claudia und meint noch: «Als Kind dachte ich, wenn ich fluchen würde, würde mir der Teufel die Worte ins Ohr flüstern – so ein Scheiss», und lacht.