In Schleitheim setzten Gläubige vor 487 Jahren einen Meilenstein für die Entwicklung der Freikirchen. Die Schleitheimer Artikel sind noch heute die Glaubensgrundlage der MennonitInnen.
Im zweiten Stock des ehemaligen Schulhauses hinter der Kirche brennt Licht. Willi Bächtold, der Präsident des Vereins für Heimatkunde, wartet bereits. «Kommen Sie in den zweiten Stock», ruft er aus dem Fenster. Das Museum Schleitheimertal hat eigentlich nur zwei Stunden im Monat geöffnet, doch für angemeldete Gäste macht Bächtold regelmässig Ausnahmen.
Das Museum zählt rund 1000 BesucherInnen pro Jahr, die Hälfte davon kommt wegen des Täuferzimmers. Das wichtigste Exponat ist ein Buch aus dem Jahr 1550. Es liegt in einer Vitrine in der Mitte des Raumes. Darin enthalten sind die «Schleitheimer Artikel», die der Täufer Michael Sattler vor knapp 500 Jahren während der Reformation verfasst hatte und die als ältestes Glaubensbekenntnis der reformatorischen Täufer gelten. Unter dem Titel «Brüderliche Vereinigung etlicher Kinder Gottes» hielt Sattler in sieben Artikeln fest, wie der christliche Glaube ausgeübt werden soll.
Noch heute berufen sich die Amischen, die Hutterer und die Mennoniten auf die sieben Artikel aus Sattlers Feder und pilgern nach Schleitheim an den Ursprungsort ihres heiligen Bekenntnisses. «Drei bis viermal jährlich gibt es Car-Touren, die hier halt machen», erzählt Bächtold. Hauptsächlich seien es MennonitInnen aus Deutschland und aus Nord- und Südamerika. «Wir hatten aber auch schon Mennoniten aus Südkorea hier oder einen japanischen Professor, der einen Kultur- und Religionsführer über die Schweiz verfasste», sagt er. Amische aus den USA hingegen seien selten im Museum Schleitheimertal zu Gast, da sie auf viele neue Technologien verzichten müssen und deshalb nicht fliegen dürften.
Michael Sattlers Schrift, die nun in der Mitte des Raumes im Schleitheimer Dorfmuseum liegt, hatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts grosse Angst bei der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit verbreitet. Selbst nach Sattlers Tod nahmen die beiden Schweizer Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin auf die «Schleitheimer Artikel» Bezug und schrieben gegen Sattlers Lehren an.
Angst vor einer fortschrittlichen Schrift
Den grossen christlichen Kirchen gingen die Reformen der TäuferInnen zu weit. Denn Sattler war der Meinung, dass Säuglinge nicht getauft werden dürfen, sondern nur Erwachsene, die sich bewusst mit der Religion befasst haben. Daher kommt auch die Bezeichnung «Täufer».
Auch die weltlichen Herren unterdrückten Sattlers Anhänger, wo es nur ging. Ihnen passte es gar nicht, dass TäuferInnen keinen Eid ablegen dürfen, also auch keine Lehens- oder Gehorsamseide gegenüber der Obrigkeit. Und sie dürfen niemanden töten, selbst wenn ein Herrscher sie für den Kriegsdienst verpflichtet.
Freikirche mit laizistischem Weltbild
Die TäuferInnen betrachteten sich bald als Freikirche, die im Gegensatz zu den Landeskirchen eine strikte Trennung von Staat und Religion forderte. Und sie nährten die Angst der Machthaber, dass sich die neue Religionsgemeinschaft vom Staat nichts mehr sagen lassen könnte.
Staatliche Behörden, die römisch-katholische Kirche, die lutherische und die reformierte Geistlichkeit griffen hart durch. «Die Treffen der Täufer fanden im Geheimen statt», sagt Bächtold und verweist auf eine Tafel in der Ecke, auf der vier Standorte im Kanton Schaffhausen markiert sind. Auf einer anderen Tafel ist ein Brief eines Schleitheimer Pfarrers aus dem Jahr 1567 abgebildet, in dem dieser die fehlenden Schäfchen in seinem Gottesdienst dem Stadtschreiber in Schaffhausen meldete – es könnte sich bei ihnen um TäuferInnen handeln, so die Angst der Stadtherren.
«Ihnen wurde das Leben schwer gemacht und beispielsweise die Ernte konfisziert», erzählt der Präsident des Museumsvereins. «In Schleitheim konnten die Täufer noch länger leben, da sich die Bevölkerung mit ihnen solidarisiert hat», so Bächtold. «Doch als die Gemeindebehörden deswegen bestraft wurden, ging es auch hier nicht mehr.» Die letzte Täuferin verliess 1680 das Dorf und zog nach Norden in die Pfalz, wo nach dem Dreissigjährigen Krieg bereits hunderte ihrer GlaubensgenossInnen Zufl ucht gefunden hatten.
«Aus einem Mennonitenausbildungszentrum in der Pfalz kommt jährlich eine Gruppe vorbei», erzählt Bächtold. «Und es gibt viele Nachkommen von Auswanderern, die zu Besuch kommen.» Erst letzte Woche sei ein Amerikaner hier gewesen, dessen Vorfahren er im Archiv aufgespürt habe.
Auch in Mähren und später in Russland suchten die TäuferInnen Schutz vor Verfolgung, ehe in drei Wellen Tausende von ihnen in die USA auswanderten. In einer Ecke des Museums erinnert ein Miniaturmodell der Mayflower an die religiös motivierte Emigration in die USA, auch wenn es sich bei diesen AuswandererInnen um PuritanerInnen und nicht um TäuferInnen handelte.
Michael Sattler selbst bekam die Härte der Mächtigen bereits drei Monate, nachdem die «Schleitheimer Artikel» schriftlich festgehalten worden waren, zu spüren. Er reiste nach dem Geheimtreffen nach Rottenburg, wo ihn die römisch-katholischen Behörden festnahmen. Ein Henker schnitt ihm wegen Blasphemie die Zunge ab und zerriss seinen Körper mit glühenden Zangen.
The Schleitheim confession of faith
Seit das Museum in den Besitz des Buches aus dem Jahr 1550 gelangte, ist den TäuferInnen ein ganzes Zimmer gewidmet. An der Wand neben der Mayflower sind eiserne Fesseln aus Schaffhausen ausgestellt, die an die Verfolgung der TäuferInnen erinnern sollen.
In einer Vitrine liegen Neuauflagen der «Schleitheimer Artikel», übersetzt Ende der 70er Jahre ins Englische als «The Schleitheim Confession of Faith». «Wir haben schon ein bisschen mehr Besucher, seit wir das Täuferzimmer eingerichtet haben», sagt Bächtold. «Es hat internationale Bedeutung und ist sicherlich die Hauptattraktion des Museums.» Nur noch zwei Exemplare des Buches sind erhalten, eines davon ist im Besitz eines mennonitischen Colleges in den USA, das andere gelangte 2001 durch Zufall in die Hände von Willi Bächtold.
«Ich habe die ‹Schleitheimer Artikel› in einem Katalog einer Versteigerung entdeckt», erzählt er. «Ein Glücksfall, dass ich diesen so genau studiert habe.» Man spürt den Stolz und die Freude, dass er das Buch ausstellen kann, aus seinen Worten heraus. Um sich das Buch leisten zu können, fragte er die Sturzenegger-Stiftung an, ob sie einen Teil der Kosten übernehmen könnte. Die Stiftung bot an, gleich die gesamten Kosten zu übernehmen und ersteigerte das Buch schliesslich für 14 000 Deutsche Mark.
«Nun haben wir es als Dauerleihgabe in Schleitheim», sagt Bächtold. Mit dem Inhalt des Buches kann er allerdings nicht allzu viel anfangen. «Mich interessieren in erster Linie die gesellschaftlichen Entwicklungen und der geschichtliche Hintergrund», meint er, als wir das Zimmer verlassen und die Treppe hinuntersteigen.
«Es ist interessant und tragisch, dass man damals so intolerant war – obwohl, heute ist’s ja fast noch verreckter. Religiösen Fanatismus halte ich für schwierig.»