Ein Wahlsieg bringt noch keinen Wandel

Die Oppositionspartei von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wird aus den ersten demokratischen Wahlen seit über 50 Jahren als Siegerin hervorgehen. Gewonnen ist damit aber wenig. Der Lappi-Asien-Korrespondent Marlon Rusch berichtet aus Yangon.

Auf einer kargen Wiese etwas ausserhalb des Stadtkerns von Yangon konnte man kürzlich exemplarisch sehen, wie das politische Myanmar derzeit funktioniert. Zehntausende Menschen, hauptsächlich aus der Mittelschicht, drängten sich am vergangenen Sonntag dicht an dicht, schwenkten rote Fahnen, sangen, tanzten – und warteten. Sie alle waren gekommen, um eine 70-jährige, kranke Aristokratin sprechen zu hören. Als Aung San Suu Kyi dann endlich die Bühne betrat, saugten die Menschen ihre Worte so gierig auf wie die aufputschenden Alkaloide der Betelnuss, die im ehemaligen Burma an jeder Ecke gekaut wird. Als Europäer konnte man sich kaum erwehren, von der überschwänglichen Masse unter Gekicher mit allerlei Propaganda-Material bestückt zu werden.

Suu Kyi ist in Myanmar die personifizierte Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Jahrzehnten brutaler Militärdiktatur und wirtschaftlichen Niedergangs. Sie ist die unangefochtene Führerin der grossen Oppositionspartei National League for Democracy (NLD). 1988 gegründet, gewann die NLD in den Parlamentswahlen von 1990 über 80 Prozent der Sitze. Doch die Militärjunta verweigerte ihr die Machtübernahme, schlug Proteste blutig nieder und stellte Suu Kyi mehrfach für insgesamt 15 Jahre unter Hausarrest.

Seither haben sich die Vorzeichen geändert: Vor fünf Jahren kam eine neue, reformistischere Regierung an die Macht. Das Land begann, sich zu öffnen. Suu Kyi wurde in die Freiheit entlassen und die Bevölkerung erlangte nach und nach gewisse Freiheiten. In der Pansodan Gallery in der Innenstadt, wo sich am Dienstagabend jeweils Intellektuelle und Künstler über die politischen Geschehnisse austauschen, ist die Stimmung fröhlich und gelassen. Die Aktivisten, von denen einige jahrelang im Gefängnis sassen, äussern heute gegenüber Journalisten offen Kritik am Regime. Der Maler Shein etwa, der sagt, «nach den Wahlen wird die Junta die Quittung für ihre zahlreichen Verbrechen bekommen.»

Doch der Schein trügt. Die Störaktionen der Regierungen sind nicht verschwunden, sie sind lediglich subtiler geworden. Suu Kyis Auftritt vom vergangenen Sonntag sollte ursprünglich bei der grossen Schwedagon-Pagode im Zentrum Yangons, dem Wahrzeichen des Landes, stattfinden. Aus vorgeschobenen, bürokratischen Gründen wurde er von der Regierung aber in die Peripherie verlegt. Weniger Platz, weniger Menschen, weniger Einfluss.

Diese neue Strategie hat verschiedene Gründe. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Union Solidarity and Development Party (USDP), die derzeitige Regierungspartei, auch bei einem Wahlsieg der NLD nicht allzu viel Einfluss verlieren würde. Gemäss Verfassung ist ein Viertel aller Parlamentssitze für das Militär reserviert, dem Bruder der zivilen USDP. Das Land wählt also nur 75 Prozent aller Sitze neu. Will die Oppositionspartei NLD das absolute Mehr aller Sitze erreichen und einen neuen Präsidenten stellen, muss sie folglich nicht 51 sondern 67 Prozent aller Stimmen holen. Zwar wird nicht nur an der NLD-Wahlveranstaltung, sondern auch auf den Strassen Yangons eine eindeutige Sprache gesprochen: vom Taxifahrer mit dem gebrochenen Rücken bis zum fahnenschwingenden Studenten sind sich alle sicher: «NLD will win!». Doch Myanmar ist nicht nur Yangon.

Insgesamt buhlen 6000 Kandidaten von 91 Parteien um die Parlamentssitze. Die Opposition hat viele Gesichter. Auf einer mehrstündigen Fahrt von Yangon Richtung Westen dröhnt bald nicht mehr der NLD-Popsong aus den mit Megafonen und Boxentürmen bepackten Wahlmobilen. Und auf diesen prangen auch nicht mehr der weisse Stern und der gelbe Pfau der grossen Oppositionspartei. Nicht zu vergessen die Regierungspartei USDP, die die eigenen Reihen wohl geschlossen mobilisieren kann. Der niederländische Dokumentarfilmer und Myanmar-Kenner Kay Lie Mastenbroek wagt nach ein paar Dosenbier auf dem Pansodan-Balkon eine Prognose: «Ich rechne mit 60 Prozent Wählerstimmen für die NLD – falls die Wahlen tatsächlich fair ablaufen».

Min Aung Hlaing, der Chef der Armee, hat öffentlich versprochen, das Resultat der Wahlen zu akzeptieren. Doch in der Bevölkerung bleiben Zweifel. Während einer Zugfahrt in die Yangoner Peripherie sagt ein Siemens-Manager mit einem Faible für Schweizer Armbanduhren, wenn die Lage eskalieren sollte, könne man nur wegrennen. «Aber dann schiessen sie uns in den Rücken!» Zu sehr ist «8888 Uprising», die riesige, friedliche Demonstration vom 8. August 1988, die vom Militär blutig niedergeschlagen wurde und Tausende Tote forderte, noch in den Köpfen verankert. Als Ausländer wird einem immer wieder dringend angeraten, Yangon noch vor den Wahlen zu verlassen. Vieles spricht jedoch dafür, dass dem Land Bilder wie 1988 dieses Jahr erspart bleiben. Und wenn eine Militärintervention ausbleibt, werden die Wahlen den Umständen entsprechend fair verlaufen, prophezeit der Leiter der internationalen Wahlbeobachtung in Myanmar, Jonathan Stonestreet, vor Journalisten.

Wahlfälschungen sind wohl auch gar nicht nötig. Die Militärregierung ist auch im unwahrscheinlichen Falle eines überwältigenden Sieges der NLD gut abgesichert. Die Verfassung sieht vor, dass das Militär die meisten Bereiche des ökonomischen und öffentlichen Lebens eigenständig diktieren kann – unter Umgehung der Politik. Und Verfassungsänderungen können wiederum mit dem Veto eines Viertels des Parlaments verhindert werden, welches das Militär mit den garantierten 25 Prozent der Sitze jederzeit einlegen kann. Die Regierung kann es sich also leisten, Suu Kyi gewisse Freiheiten einzuräumen.

Die Hoffnungsträgerin wirkte beim wichtigsten Auftritt ihrer Wahlkampagne, ihrem ersten öffentlichen Auftritt in der Metropole Yangon seit Jahrzehnten, trotz allem gut aufgelegt. Sie spricht klar, lange und frei. Sie ruft den Menschen zu: „Geht wählen!“ Ihr Wahlprogramm beschränkt sich jedoch hauptsächlich auf die Schlagworte «Demokratie» und «Wandel». Konkrete Antworten auf Fragen aus der Menge, wie genau sie das Land zu reformieren gedenke, bleibt sie schuldig.

Die Führungsriege der NLD scheint sich bewusst zu sein, dass sie das Land nicht blitzartig umkrempeln kann. Und auch wenn sie es könnte, müsste Suu Kyi weiterhin im Hintergrund agieren. Die Verfassung verweigert Bürgerinnen und Bürgern, die mit Ausländern verheiratet sind, die Präsidentschaft. Der Ehemann der Oppositionsführerin war Brite. Und neben Suu Kyi gibt es innerhalb der Partei keine vernünftige Alternative. Die NLD-Führungsriege ist überschaubar und überaltert. Im indischen Fernsehen sagte Suu Kyi zwar, es gebe einen geeigneten Kandidaten, einen Namen wollte sie jedoch nicht nennen.

Es ist anzunehmen, dass sie weiss, dass sie gar nie erst in die Lage kommen wird, einen Kandidaten portieren zu müssen. Viel wahrscheinlicher scheint derzeit, dass keine der Parteien das absolute Mehr erreichen wird. Kay Lie Mastenbroek vermutet, dass hinter den Kulissen bereits Pläne für eine grosse Koalition geschmiedet werden – mit einem externen Präsidenten. Das Militär könnte grosse Teile der Macht behalten und die NLD würde nicht Gefahr laufen, ohne eigentliches Entwicklungsprogramm die alleinige Verantwortung für über fünfzig Millionen Menschen zu übernehmen. Und nicht zuletzt könnte das Kandidatenvakuum auf diese Weise elegant umschifftwerden.

Vielleicht kommt es der NLD-Führungsriege unter dem Strich gar nicht ungelegen, wenn die Partei keinen Erdrutschsieg erringt. Bis die Stimmen definitiv ausgezählt sind, werden Tage oder Wochen vergehen. Und die Zukunft von Myanmar wird sich wohl erst nach zähen Verhandlungen in den kommenden Monaten entscheiden. Ob die roten Massen der Oppositionsführerin dann immer noch so frenetisch zujubeln, steht in den Sternen.