Freie Liebe und Laudanum

Filmverführung

Ken Russell, Gothic und Prometheus.

Wir schreiben das Jahr 1816, Juni. Im Vorjahr war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen und die in die Atmosphäre geschleuderten Asche- und Staubmassen mindern noch immer die Sonneneinstrahlung.

Kälte, Nässe, Missernten, Hungersnot, Typhus- und Choleraepedemien sind auch in der Schweiz die Folgen. Der Gespenstersommer. In der Villa Diodati am Genfer See hat sich der skandalumwitterte Dichter und Literat George Gordon Noel Byron, besser bekannt als Lord Byron, eingemietet. Frau und Kind hat er verlassen, inzestuöse Beziehungen zu seiner Halbschwester werden ihm nachgesagt. Bei ihm wohnt sein Freund und Arzt John William Polidori, knackige 20 Jahre jung. Honi soit qui mal y pense. Auch Polidori hat literarische Ambitionen, promoviert hatte er mit einer Dissertation über Alpträume.

FRANK KAY WINDELBAND ist Barkeeper in der «Schäferei». Seine Leidenschaft ist die Cinematografie. Frank besitzt über 6’000 Filme, ausgewählte Perlen zeigt er monatlich anlässlich der «Camera Obscura» im TapTab.

Etwa zur gleichen Zeit kommt ein weiterer unglücklich verheirateter Poet nach Genf, Percy Bysshe Shelley. Aufrührerischer Atheist, der er nun mal ist, hat er gleich zwei Frauen dabei. Mary Godwin ist 18-jährig, Tochter des Philosophen und Begründers des politischen Anarchismus William Godwin und seiner Frau Mary Wollstonecraft, die mit ihrer Schrift «Verteidigung der Rechte der Frau» (1792) eine der grundlegenden Arbeiten der Frauenrechtsbewegung verfasste. Schon seit zwei Jahren ist sie Shelleys Geliebte, wird ihn noch 1816 heiraten, keine drei Wochen nach dem Selbstmord seiner Frau.

Das fünfte Rad am Wagen ist Mary Godwins Stiefschwester Claire Clairmont. Pikanterweise hatte die zuvor schon ein Verhältnis mit Lord Byron gehabt und hiess eigentlich Mary Jane (sic). Verwirrend, all diese Marys.

Diese doch recht dekadente Ansammlung von Freigeistern hockt nun also im ekligsten Sommer seit Menschengedenken in der Villa am See, zum Zeitvertreib liest und erzählt man Gespenstergeschichten, diskutiert und philosophiert vor sich hin und fummelt mit Alkohol und Opiaten rum, bis schliesslich beschlossen wird, jeder solle selbst eine unheimliche Geschichte verfassen.

Niemand ahnt, dass zwei der berühmtesten Schöpfungen der phantastischen Literatur entstehen werden …

Polidori, mit Hilfe von Byron, erweckt mit «The Vampyre» den blutsaugenden Nachtmahr zum Leben, wird damit selbst Bram Stoker inspirieren, dessen «Dracula» 1897 veröffentlicht wird. Ruhm erntet er nicht, die Geschichte wird irreführenderweise unter Byrons Namen veröffentlicht.

Mary Godwin jedoch erschafft mit «Frankenstein oder Der neue Prometheus» den Schauerroman des 19. Jahrhunderts schlechthin. 1818 wird das Werk erstmal veröffentlicht unter dem Namen Mary Shelley. Sowohl das Vampirthema als auch der Frankenstein-Mythos haben hunderte Verfilmungen hervorgebracht, manche werkgetreu, manche gar gut, viele aber nicht ihr Zelluloid wert, da möge jede/r selbst entscheiden, ob und welche Verfilmung goutierbar ist.

Die Geschehnisse in der Villa am See jedoch hat der äusserst umtriebige (und exzentrische) Regisseur Ken Russell (Tommy, Lady Chatterley, Die Teufel, Der Höllentrip) 1986 in seinem Film «Gothic» wunderbar beschrieben. Bildgewaltig, düster, bedrückend, exzessiv und dem Irrsinn nah – ein Film ganz nach Russells Manier, glänzend besetzt mit Gabriel Byrne, Timothy Spall und Julian Sands. Ken Russell war ein Narr, Provokateur, Schmutzfink und Genie – und somit genau der richtige Mann für das liederliche Treiben. Der schmutzige alte Mann des britischen Kinos starb 2011, sein Nachlass umfasst 60 Spielfilme, Kurzfilme und TV-Produktionen.

Leider ist der Film auf DVD nicht mehr allzu einfach aufzutreiben – wer mir jedoch als Erstes den Namen des Frankenstein-Darstellers in der berühmten 1931er Verfilmung von James Whale nennen kann, bekommt ein Exemplar!