«Ich bin eine deskriptive Hure»

Gabriel Vetter, der «Sauschwabe» unter den NorwegerInnen, hat nichts dagegen, als Haamet-Dichter bezeichnet zu werden. Vielmehr stört er sich an der SVP, die erfolgreich Landminen und Beinprothesen verkauft.

GABRIEL VETTER lebt für zwei Jahre in Oslo. Der Slampoet und «Güsel»-Star tritt allerdings noch regelmässig in der Schweiz auf. Der weisse, heterosexuelle Mann fühlt sich aber nicht in seiner Existenz bedroht. Bild: zVg

Gabriel, wie erklärt man einem Norweger, was zum Geier Beggingen ist?

Och, wenn ich gefragt werde, woher ich komme, dann sage ich: aus der Schweiz. Obwohl es gerade hier in Oslo witzig ist, wenn ich mit meiner Freundin schwedisch spreche im Tram. Das ist genau so, wie wenn man in Zürich Hochdeutsch spricht, weil es sich mit den Schweden in Oslo gleich verhält wie mit den Deutschen in Zürich: Beide sind Niedriglohn-Fachkräfte. Und da ich mich mit meiner Freundin auf Hochdeutsch und Schwedisch unterhalte, waren wir in der Schweiz die Deutschen, und nun, in Norwegen, sind wir die Schweden, sprich die Deutschen. Verstehst du?

Das heisst: Du bist du immer der «Sauschwabe», ganz gleich, wo du dich gerade aufhältst.

(lacht) Ja, schon. Das beweist mal wieder: Es ist egal, woher du kommst, die Mechanismen sind überall dieselben. Darum ist es auch nicht schwer zu erklären, was Beggingen ist. Solche Käffer gibt es zu Tausenden – erst recht in Norwegen. Das Land ist ja, mit Ausnahme von Oslo, eine sehr grosse Ansammlung von Beggingens, also von Dörfern, die extrem weit auseinander liegen.

Die Norweger sind im Herzen also auch Begginger.

Natürlich, denn Provinz existiert überall, das ist keine Schweizer Besonderheit. Das sieht man auch bei meinem Slamtext «Gächlingen», eine Hasstirade über dieses Dorf, über das der Bus nach Beggingen immer einen Umweg nahm. Dieses Stück trug ich schon an internationalen Poetry-Slam-Festivals vor, und alle verstanden es.

«Der Turnverein zog
mich nicht gross»

Du bist in Beggingen und Stein am Rhein aufgewachsen, lebtest in Basel, Winterthur und nun in Oslo. Wo liegt eigentlich deine Heimat?

Da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich dachte immer, sie sei nicht an einen Ort gebunden, weil ich als Kind viel umgezogen bin, von Schlattingen nach Beggingen und von da nach Stein am Rhein – das klingt jetzt ziemlich lächerlich.

Nach einer ziemlichen Odyssee.

Ich habe die ganze Welt gesehen, schon als Kind (lacht). Im Ernst: Von meiner Biographie her kann man nicht sagen, ich sei nur in Beggingen aufgewachsen und mehr oder weniger vom Turnverein aufgezogen worden. So finde ich es stringent, dass es jetzt so weitergeht. Letztes Jahr, als mein Sohn auf die Welt kam, lebte ich ein halbes Jahr in Schweden, nun für zwei Jahre in Norwegen.

Und, wo fühlst du dich zuhause?

Heimat hat viel mit Menschen zu tun. Und da meine Freunde auf der Welt verstreut leben, ist mein Zuhause nicht an einen Ort gebunden. Aber im vergangenen Sommer erlebte ich irgendwie Erschreckendes. Als meine Mutter starb – sie war zunächst noch im Krankenhaus –, wohnte ich während dreieinhalb Monaten in Stein am Rhein und Umgebung, besuchte alte Freunde, Orte …

Das klingt nach einer Reise in die Vergangenheit.

Genau. Das fuhr mir ziemlich ein. Ich dachte bei mir: Shit, hier könnte man ja auch leben. Doch irgendwie traute ich diesem Gefühl nicht so recht. Ich fand weder, dass die Region zwischen Bodensee, Stein am Rhein und Schaffhausen eine
Scheissprovinz noch dass sie der beste Ort der Welt ist. Doch dort fühlte es sich beruhigend an, als sei ich aufgehoben, und das fand ich strub – vielleicht bin ich ja doch leicht anfällig auf eine Verklärung der Heimat.

Du klingst schon etwas wehmütig.

Das würde ich nicht sagen. Ich traf zum Beispiel Freunde aus meiner Primarschulzeit, Leute, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe, und da herrschte eine völlige Vertrautheit zwischen uns. Wir dachten: Wir kennen uns eigentlich verdammt gut.

«Das Rivella-Zeug
habe ich gesehen»

Wenn ich dir nun sage: Du bist ein Haamet-Dichter ..

(lacht)

… reisst du mir gleich den Kopf ab?

Nein, sicher nicht. Wie heisst dieser Schaffhauser Haamet-Dichter? Bächtold?

Albert Bächtold, ja.

Gut, Haamet-Dichter. Keine Ahnung … (überlegt lange)

Ich behaupte das, weil praktisch all deine Slamtexte, Filme und Kolumnen ihren Ausgangspunkt in der Region Schaffhausen haben.

Ja, klar. Das hat damit zu tun, dass ich gerne vom Kleinen ausgehe, um von da aus aufs grosse Ganze zu schliessen. Diese Tatsache wurde mir ebenfalls im letzten Sommer bewusst, und die «Erkenntnis» war mit ein Grund, weshalb wir nun nach Oslo gezogen sind.

Wie meinst du das?

Naja, dieses Rivella-Zeug, Pommes Chips, Servelat und und und, das habe ich jetzt gesehen. Davon will ich etwas wegkommen, denn ich fände es schade, wenn ich zum Dieter Wiesmann 2.0 avancieren würde. Das ist wie beim Tetris: Jetzt habe ich es durchgespielt, darum mache ich etwas anderes.

Tetris kann man aber gar nicht zu Ende spielen, soviel ich weiss.

Ist das so? Ah, shit. Ja, gut, «denn halt». Haamet-Dichter, diese Bezeichnung ist mir auch egal. Ich weiss ja selbst nicht, wie ich mich nennen sollte, ob Kabarettist, Autor oder sonstwie. Je nach Anlass, für den ich Geld erhalte, ändere ich meine Bezeichnung – ich bin eine deskriptive Hure (lacht).

«Man weiss erst, was man an der Schweiz hat, wenn man sie verlassen hat»: Was hältst du von dieser abgelutschten Weisheit?

Es ist ja nicht so, dass ich seit zehn Jahren alleine im Amazonas-Gebiet lebe und mir mit der Zeit meine eigene Fondue-Kolonie aufgebaut habe. Aber manchmal sitze ich, der klassische Migrant, hier in Oslo und denke über den temperamentvollen Süden nach, über die Schweiz. Ich sage immer: «Wir haben zwar kein Geld, aber glücklich
sind wir trotzdem.» Nein, natürlich fallen mir Unterschiede auf, aber eher zuungunsten der Schweiz. Gerade als junge Familie ist es in Norwegen einfacher; hier hast du Anspruch auf ein Jahr Elternzeit. Das garantiert dir auch, dass du
nicht wieder in alte Rollen zurückfällst: Die Frau zuhause, der Mann am arbeiten.

«Jeder ist sein
eigener Nationalstaat»

Norwegen gilt ja gemäss «Economist» als «demokratischster Staat der Welt».

Das habe ich auch gehört, aber woran will man das messen? Allerdings muss ich schon sagen: Norwegen ist das, was die Schweiz sein will – einfach besser.

Obwohl sie noch einen König haben!

Gut, welches Äquivalent haben wir in der Schweiz? Hmm.

Vielleicht den Geissbock der SVP, Zottel.

(lacht) Im Ernst: Natürlich bieten alle Länder gewisse Besonderheiten, gute und schlechte. Aber insgesamt macht Norwegen schon vieles besser als die Schweiz.

Zum Beispiel?

Dinge, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. In der Schweiz etwa gibt es eine riesige Diskussion, weil es bei der SRG praktisch keine Moderatorinnen und Moderatoren mit Migrationshintergrund gibt. In Norwegen interessiert es gar niemanden, wenn ein pakistanisch-stämmiger Mann Nachrichtensprecher wird. In der Schweiz wäre das sofort politisch aufgeladen: Die Rechte meint, «die Ausländer» übernehmen unsere Medien, die Linke feiert das als wichtiges Zeichen.

Um zurück zur Heimat zu kommen: Niemand weiss, wie sie definiert werden soll, aber alle wissen, was sie nicht ist. Denn Heimat definiert sich über Abgrenzung, Ausschluss, über die Trennung vom «Wir» und «die Anderen». Warum?

Der weisse, heterosexuelle Mann aus dem Westen merkt plötzlich, dass er nicht alleine auf der Welt ist. Und damit kommt er überhaupt nicht klar. Darum ist es interessant, was jetzt passiert, wie die Gesellschaft damit umgeht. Viele reagieren mit Angst.

Weshalb?

Dazu habe ich mir kürzlich Gedanken gemacht. Egal ob Nationalismus oder Lokalpatriotismus, alles beginnt beim Individuum. Die Leute wollen eine Übersicht über die Welt erlangen und gehen dabei immer von sich selber aus, denn jeder Körper ist ja eigentlich nichts anderes als ein Nationalstaat. Dieses Konzept von Ich oder Wir und den Anderen zieht man dann auf die nächste Ebene: die Familie. Danach folgt der Gartenhag, das Dorf, das Land. Deshalb ist Nationalismus so beliebt: Weil es die bequemste und übersichtlichste Art zu leben ist. Wenn man das Phänomen aber herunterbricht, erkennt man sein Lächerlichkeit: Jemand steht also auf einem Quadratmeter Boden, quasi sein eigener Nationalstaat, und sagt: «Hier ist alles besser als rundherum!»

Der Heimatbegriff wird ja praktisch ausschliesslich von der SVP besetzt, die sich als Bewahrerin der Schweizer Werte inszeniert. Ist das legitim?

Aus der Sicht der SVP: logisch. Mich erinnert ihre Politik immer an das Buch «Warum ist es nicht so, wie es früher nie gewesen ist?» Problematisch finde ich das Narrativ der Partei vom weisen Alpenvolk, das immer Recht hat – quasi Viecher, die riechen, wenn etwas nicht gut läuft.

Pure Instinktmenschen also?

Genau. Und dann sagt sie immer: Alle, die nicht SVP wählen, und alle, die die Grenzen nicht dichtmachen wollen, sind naiv. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn jemand naiv ist, dann ist das dieser Typ, der in der Schweiz hockt, zweimal pro Jahr nach Dubai in die Ferien fliegt, all inclusive, und die Tatsache leugnet, dass rundherum Dinge geschehen, die ihn betreffen. Wie naiv muss man sein, um tatsächlich an diese Abschottung zu glauben.

Du sprichst es an: Wirtschaftlich ist die Schweiz längst globalisiert. Politisch und ideell leugnet die SVP jedoch diesen Umstand …

… und genau das kapiere ich nicht. Ich begreife nicht, was das Ziel dieser Politik sein soll. Warum verleugnet man die globalisierte Tatsache? Es ist zum Beispiel auch absurd, dass die SVP und Teile der FDP finden, gewisse Ausländer integrierten sich nicht, und gleichzeitig jegliches Gemeinschaftsgefühl – was ja ihrem Ideal entspricht –, im Keim ersticken. Metaphorisch gesehen ist die SVP ein grosses, straff organisiertes Unternehmen, das zwei Dinge verkauft: Landminen und Beinprothesen. Das ist zwar eine verdammt gute Geschäftsidee, ob sie aber gut ist für die Welt, bezweifle ich mal.

«Ich bin prophylaktisch
melancholisch»

Das klingt so, als hättest du nicht unbedingt Heimweh.

Eher nicht. Wobei die Frage ist: Heimweh nach was?

Vielleicht danach, mit Freunden irgendwo in einer Schaffhauser Beiz zu hocken.

Das schon, ja. Ich bin nämlich ein völlig übermelancholischer Mensch, so, dass es fast schon lächerlich ist, quasi prophylaktisch melancholisch. Ich vermisse Oslo jetzt schon, obwohl ich noch eineinhalb Jahre hier sein werde. Ich sehne mich ständig nach irgendwelchen Dingen, aber nicht an einen speziellen Ort.