«Wir sind eine Käsefamilie»

Amaro und Carlos Abad sind Spanier und leben in der Schweiz. Sie finden, Heimat ist, was man daraus macht. Der Magen will aber manchmal etwas anderes als der Kopf. Eine Heimatsuche zwischen Vater und Sohn.

Bilder: rl.

Amaro Abad kam vor 50 Jahren in die Schweiz. Auswandern war damals fast Mode, sagt er. Sein Bruder hatte in Schaffhausen Arbeit gefunden und hatte auch für ihn eine Stelle. So liessen die Eltern den siebzehnjährigen Amaro gehen. Er kehrte jedes Jahr nach Spanien zurück und lernte dort eine junge Frau kennen, Teresa, die ihn in die Schweiz begleitete. Dann kam Carlos. Die Heimat glitt immer weiter in die Ferne und rückte ganz nah heran.

Im Herz

Carlos: Wenn du interkulturell aufgewachsen bist, pick’ dir das Beste heraus und mach’ was Schönes damit! In Spanien bin ich der Schweizer, in der Schweiz der Spanier. Das ist cool.

Amaro: Wenn du mich fragst, ob ich Schweizer oder Spanier bin, dann fragst du mein Herz. Heimat muss man fühlen. Es ist dort, wo du lebst und was du vermisst. Ich fühle mich hier sicher und wohl, es ist ruhig und das ist gut. Aber das Wetter ist grausam. Daran gewöhnt man sich nicht, die Schweiz kann aber nichts dafür.

Carlos: Hier geht die Spontaneität etwas flöten. Dafür ist alles strukturiert und speditiv. Aber die Kreativität leidet darunter. In Spanien herrscht oft das Chaos. Die Dinge werden dann erledigt, wenn sie erledigt werden. Wer nicht damit klar kommt, dreht durch …

Amaro: … Die Leute sind hier korrekt, aber reserviert. Im Bus sitzen alle für sich und starren vor sich hin. In Spanien sprechen die Leute miteinander, auch wenn sie sich nicht kennen. Hier sagen sich alle «Sie», das war am Anfang ganz komisch für mich. In der Schweiz sind wir auch immer beschäftigt. Ich bin pensioniert, hab aber einen vollen Kalender. Es ist unglaublich.

AMARO ABAD wanderte 1965 aus Galizien (Spanien) in die Schweiz ein. Er arbeitete 42 Jahre lang in der IWC. Sein Herz schlug für die Uhren, sagt er. Er isst leidenschaftlich gerne Käse und geht drei Mal pro Woche Schwimmen.

Carlos: Ich unterrichte Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene und kenne Spanier, die wegen der Krise hierher gezogen sind. Wenn mich jemand nach dem Unterricht fragt, ob ich ein Bier trinken gehen will, dann sag ich ja, nächsten Mittwoch hätte ich Zeit. Das schockiert die Leute. Sie finden dann: Du bist kein Spanier, das kannst du vergessen. Hier sagt niemand, lass uns jetzt auf die Bank sitzen und ein, zwei Stunden quatschen. In Spanien geht es fast nur so. Da lernt man jemanden kennen und am nächsten Tag ruft er an und fragt, ob man Fussball spielen will.

Amaro: Während meinen ersten Jahren in der Schweiz hatte ich sehr wenig Kontakt mit Schweizern. Ich war lieber mit meinen spanischen Freunden zusammen, oder mit den Italienern. Später, als ich in die Lehre ging, waren alle meine Kollegen Schweizer, dann hat sich die Situation geändert.

Carlos: Dass Ausländer oft unter sich bleiben, ist ziemlich normal. Auch heute. Die Heimat fehlt am Anfang. Rund herum funktioniert alles anders. Dass man in der Fremde zuerst nach Bekanntem greift, ist natürlich. Es ist ein Überlebensinstinkt. Man hat einen Kommunikationsdrang und spricht mit den Menschen, die einen verstehen.

Im Mund

Carlos: Wir sprechen Galizisch …

Amaro: … Das ist wie Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Wenn wir in Madrid Galizisch sprechen, werden wir nur zur Hälfte verstanden.

Carlos: Galizisch ist ein Spanisch, das vor 300 Jahren stehen geblieben ist. Es ist sehr nah am Portugiesischen. Es hat sehr viele Buchstaben, die im Spanischen nicht existieren.

Amaro: Carlos spricht sehr gut Galizisch. In Spanien glaubt niemand, dass er im Ausland geboren wurde.

Carlos: Ich sehe nicht wie ein Spanier aus. Ich werde dort immer wieder auf Rumänisch oder Litauisch angesprochen, dann gebe ich auf Galizisch Antwort und die Leute sind erstaunt.

Amaro: Mittlerweile wird Galizisch in der Schule unterrichtet …

Carlos: … Und für viele ist es ein politisches Statement Galizisch zu sprechen. Ein Identifikationsmerkmal. Für mich war es das nie. Galizisch ist einfach meine Muttersprache.

Im Kopf

Carlos: Die Autonomie gewisser Regionen ist in Spanien ein Thema, das die Emotionen hochkochen lässt.

Amaro: Die Regionen haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Das Baskenland und Katalonien sind stärker industrialisiert, Galizien und Andalusien sind landwirtschaftlich geprägt. Nach der Diktatur von Franco machten sich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse bemerkbar. Aus dem Ausland nehmen wir die Unabhängigkeitsbewegungen wahr, aber es ist schwierig zu sagen, was für die Spanier am besten wäre.

Carlos: Ohne es am eigenen Leib erlebt zu haben, kann man sich schwer eine Meinung bilden.

Amaro: Zur Zeit der Diktatur war es strengstens verboten, etwas anderes als das Standard-Spanisch zu sprechen. Es herrschte Unterdrückung. Heute werden die Sprachen und Traditionen wieder offen gelebt …

Carlos: … Das führt zu unterschiedlichen Auffassungen von Nationalgefühl.
Amaro: Ich war sehr jung damals und habe wenige Erinnerungen. Einige Spanier meinen, unter Franco wäre das Land sicherer gewesen, ich bin nicht dieser Meinung. Aber ich habe mich immer von der Politik ferngehalten …

Carlos: … Wir verfolgen die spanische Politik nur am Rande …

Amaro: … Ich könnte wählen …

Carlos: … Ja, per Post …

Amaro: … Aber ich tue es nicht. In der Schweiz darf ich nicht wählen, aber auch wenn doch, weiss ich nicht, ob ich würde. Politik ist nicht mein Ding

Carlos: In Spanien beteilige ich mich nicht an der Politik, weil ich nicht dort lebe. In der Schweiz mache ich meine Politik mit meiner Musik und setze mich so damit auseinander. Auch in meinem Beruf als Lehrer habe ich eine bewusste Einstellung und empfinde die tägliche Begegnung mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen als politisch. Engagement hat für mich nichts mit dem eigenen Wahlrecht zu tun.

Im Magen

Amaro: Mittlerweile kann man hier alles kaufen, was es in Spanien gibt. Man findet, was man benötigt. Dann kann man die Zutaten nach spanischer Art zubereiten …

Carlos: … Naja. Meeresfrüchte und Fisch finde ich hier nicht in der gleichen Qualität. In der Schweiz erhält man sie nicht frisch, das ist eine Illusion. Kabeljau zum Beispiel. Man bekommt ihn schon, in Salz, getrocknet, aber es ist nicht dasselbe. Darum importieren wir ihn. Packen ihn einfach ein und bringen ihn mit. Chorizos (scharfe Paprikawürste) dürfen auch nicht fehlen. Natürlich, man findet sie auch hier im Coop und in der Migros, aber wir bringen hausgemachte Produkte mit. Das ist unvergleichlich.

Amaro: Für die Paella braucht man auch viele Zutaten …

Carlos: … Wir machen sie mit Kaninchen und …

Amaro: … Safran ist wichtig …

Carlos: Ja, jede Familie schwört auf die eigene Safran-Quelle. Darin liegt das Geheimnis der Paella.

Amaro: Was das Essen betrifft, sind wir aber wahrscheinlich keine echten Spanier. Meine Frau, Carlos und ich essen sehr gerne Käse.

Carlos: Wir sind eine Käse-Familie.

Amaro: Raclette, Käseplatten, Fondue. Wir lieben es. Obwohl, das erste Mal, als ich Fondue gegessen habe, musste ich mich fast übergeben. Meine Frau Teresa und ich wurden von einem Kollegen eingeladen. Als wir den Käse im Caquelon gesehen haben und das Brot zuerst im Kirsch tunken mussten, das war wirklich schlimm. Jetzt ist es für uns eine Delikatesse. Ich habe mein eigenes Rezept für die Mischung.

Carlos: Wir müssen aber auch einige Schweizer Produkte nach Spanien bringen. Leute, die in Schaffhausen gelebt haben und gewisse Lebensmittel vermissen, geben uns Bestellungen auf: Aromat, französische Salatsauce – in Spanien völlig unbekannt –, Zweifelchips, Rivella und Nescafé. Anscheinend schmeckt der Nescafé aus der Schweiz ganz anders als der in Spanien …

Amaro: … Und Cervelats!

In den Füssen

Amaro: Mit achtzehn, neunzehn, hab ich in der spanischen Fussballmannschaft in Schaffhausen gespielt. Heute heisst der Fussballclub Centro Gallego. Ich hab aber schnell gemerkt, dass es nichts für mich ist. Ich verfolge Fussball sehr gerne im Fernsehen, die spanische Liga oder die Champions League, der Name meiner Lieblingsmannschaft fängt mit dem Buchstabe «R» an …

Carlos: … Und hört mit «eal» auf. Tschutte war nie meins. Ich hab lieber Basketball gespielt, bin viel Velo gefahren …

Amaro: … Ja, Velo. Das mag ich auch sehr, ich habe vier Velos. Ein Rennvelo, eins für die Stadt, ein Citybike …

Carlos: … Aber wenn Real Madrid spielt, das ist grossartig. Ich schaue mir die Spiele meistens im Centro Andaluz an, dort trifft sich die Real Madrid-Fankurve. Es ist wie eine Telenovela. Eigentlich ist es egal, wer die Liga gewinnt, das beeinflusst ja nicht dein Leben, aber zuzusehen, wie passioniert die Leute den Fussball erleben, und manchmal artet es fast aus, das finde ich sehr spanisch. Ich geniesse es richtig, es ist laut, emotional. Auch die EM und WM natürlich …

Amaro: … Das verfolgen wir …

Carlos: … Wenn Spanien und die Schweiz aufeinander treffen, dann bin ich klar für Spanien …

Amaro: … Logisch.

Carlos: Dieses Glücksgoal 2010 hat schon sehr geschmerzt … Aber ich gönne es auch den Schweizern, wenn sie mal gewinnen. Nur nicht gegen Spanien.