Auf der Insel der Geräusche

Ray Davies oder Paul Weller sind Ausnahmen, die meisten Songwriter müssen eine Liedidee aufzeichnen, damit sie nicht verfliegt. Im 21. Jahrhundert bedeutet das nicht selten, ein Smartphone immer in Griffnähe zu haben.

Mit dem Bus Nummer 4 fuhr ich neulich in Richtung Stadt, als sich eine Melodie in meinem Kopf anmeldete. Die in solchen Situationen übliche Taktik wird angeworfen: Melodie warm halten und sich nicht ablenken lassen.

Bahnhof. Raus auf dem Bus. Sich jetzt um Gottes Willen nicht in irgendwelche Gespräche verwickeln lassen, alles ignorieren, was nur ansatzweise die plötzliche Verabschiedung der Idee beeinträchtigen könnte. Notfalls riskieren, das man für ein ignorantes Arschloch gehalten wird.

Jetzt der nächste wichtige Schritt: eine passanten­arme Seitengasse aufsuchen und prüfen, ob die Luft rein ist. iPhone zücken, die App Trackd starten und den roten Aufnahmebutton drücken. Der finale Schritt: die Idee so deutlich wie möglich ins Mikrofon befördern: singen, summen, grunzen, beatboxen. Da die Aktion optisch garantiert nicht ganz einwandfrei aussieht, ist man gut beraten, sich zu konzentrieren und kurz zu fassen. Überraschend aus dem Off auftauchende Passanten sind jetzt das Letzte, was man braucht.

Gegen das Vergessen

In seinem unwiderstehlichen Buch «Isle of Noises» forscht Daniel Rachel, wie das Schreiben von Songs bei britischen Songwritern wie Johnny Marr, John Lydon, Bryan Ferry oder Jarvis Cocker funktioniert und von welchen individuellen Eigenschaften und Vorgehensweisen es geprägt ist. So verteidigen beispielsweise Ray Davies oder Paul Weller den klassischen Ansatz, eine brauchbare Idee bleibe automatisch hängen und komme jederzeit zu einem zurück, was eine Aufnahme nicht nötig mache.

Damon Albarn hingegen notiert und zeichnet alle Ideen umgehend auf. So läuft das auch bei mir: iPhone und Notizbuch immer in Reichweite. Mit Albarn teile ich übrigens auch die Auffassung, dass sich ein Tapetenwechsel fruchtbar auswirkt auf den Ideenoutput. «You have to go into the wilderness to get really good ideas», so Albarn.

Phonograph bis DAT-Recorder

Musikstücke zu komponieren versuchen und die Eingebungen verständlich zu notieren, das ist sicherlich keine Geschichte des 21. Jahrhunderts. Sicherlich hatten schon Walther von der Vogelweide oder Beethoven einen persönlichen Kniff, wie sie ihre Songideen ins Trockene brachten. Natürlich hatten sie keine Hilfsgeräte, um zündende Ideen festzuhalten. Seit fast 140 Jahren können wir nun nämlich schon Schall aufnehmen und konservieren. Seitdem müssen wir niemandem mehr mit Worten erklären, wie es klingt, wenn eine Wespe summt oder wie der Motor von Peppis Wagen anspringt. Die sogenannten Field Recordings haben unseren akustischen Horizont geweitet. Sie haben die Forschung und die Kunst verändert.

Der erste Schritt dafür war die Erfindung des Phonographen, der auch in der ethnologischen Forschung zum Einsatz kam. So zum Beispiel bei John Lomax und seinem Sohn Alan, die in den 1930er-Jahren in Gefängnissen der Südstaaten eine Reihe von Field Recordings fürs Archive of American Folk Song durchführten, u.a. mit Aufnahmen von «Leadbelly» und «Lightnin’ Washington».

Produktinfo im 1970er-Style: «Jederzeit spielbereit, überall dabei, handlich und chic, das ist der erfolgreiche Cassettenrecorder Philips EL 3302. SCHWUPP, die Cassette rein – SCHNAPP, den Knopf gedrückt, und schon läuft die Aufnahme.» Bild: Museum of Design in Plastics

Ob der Bus Nummer 4 1971 diesselbe Strecke bediente wie 2016, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber am 13. März 1971 veränderte sich mein Leben entscheidend, denn Onkel Friedel schenkte mir einen Philips EL 3302 zum Geburtstag. Mit dem tragbaren Kassettenrekorder nahm ich in der Folge alles auf, was sich in meiner Umgebung an Klang so ansammelte, unter anderem ein Weihnachtssingen unserer 4. Klasse im Altersheim Steig unter der Leitung von Peter Casanova. Auch wurde die erste Probe mitgeschnitten, die Daniel Tribelhorn am Kinderschlagzeug und ich am Tennisschläger im selben Jahr in einem Luftschutzkeller abhielten. Ein Playback zu Alice Coopers «Elected».

Der Philips war das erste von vielen Tonaufzeichnungsgeräten, die ich im Laufe der Jahre mit mir herumtrug. Bei den ersten Bands waren es einfache Radiorecorder, die für das Mitschneiden von neuem Material herhalten mussten. Ein Walkman mit Aufnahmefunktion war mein Begleiter, als ich 1985 für ein Jahr nach London zog (wurde mir allerdings schon nach drei Wochen aus der Wohnung geklaut). Mit Pride leisteten wir uns Mitte der Neunziger einen tragbaren DAT-Recorder von Tascam, der die neuen Songs erstmals digital konservierte (was die erfasste Soundqualität des Probelokals auch nicht gerade besser machte).

Apps, Apps, Apps

Mit dem iPhone und der bereits vorhandenen Vernetzung änderte sich alles schlagartig. Mein Spezi Roger brachte mir ein Exemplar der ersten Version aus den USA mit. Dank einer kleinen Modifikation konnte man es auch im Schweizer Netz anwenden. Allerdings brauchte man eine WLAN-Verbindung, wollte man aufs Internet zugreifen. Datenvolumen und 3G waren noch nicht handelsüblich, aber die Konsequenzen, die dieses Gerät auf unsere tägliche Arbeit ausüben würde, offensichtlich. Dass es unser Verhalten im Alltag dermassen einschneidend verändern würde, allerdings noch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mein erster Favorit punkto Aufnahme-App war die erste Version des Field Recorders, kurz FiRe genannt. Die Aufnahmequalität war schlicht grandios. Möglicherweise bilde ich mir das nur ein, aber keine andere App hat je die Klangqualität von FiRe erreicht, wohinter wahrscheinlich eine schlichte Kombination von Komprimierung und Limitierung steckte, welches der Standardeinstellung diese Bombenqualität verlieh. Nur schon die zweite Version von FiRe war nur ein billiger Abklatsch und als die Software von der Firma Røde übernommen wurde und ich die Erfahrung machte, dass in einem iPhone-Backup die gespeicherten Aufnahmen flöten gingen, verlor ich das Interesse.

Mittlerweile ist das Feld der Recording Apps fast etwas unüberschaubar geworden. Nach persönlichen Favoriten gefragt, fallen aber meist diesselben Brands: Hindenburg Field Recorder, Voice Record Pro, PCM Recorder oder der vorhin genannte Røde Recorder. Natürlich kann man auch gleich zu Garageband greifen. Neben der Soundqualität überzeugen Voice Record und der PCM Recorder auch punkto sexy User Interfaces. Mittlerweile verfügen fast alle Apps über SoundPresets, welche die Aufnahme mithilfe unterschiedlicher EQ-, Kompressor- oder Limiter-Einstellungen anpassen.

Potenzielle Field Recorder

Von der Haptik her eher gewöhnungsbedürftig ist meine derzeitige Lieblings-App, Trackd. Das fast unschlagbare Feature bei Trackd ist eine idiotensichere Einrichtung für Mehrspuraufnahmen, die es erlaubt, mit zwei, drei einfachen Handgriffen eine zweite Gitarre oder Stimme über die ursprüngliche Aufnahme zu legen, inklusive Kontrolle der Balance zwischen den verschiedenen Spuren.

Ein Thema für sich ist die Verwaltung der Aufnahmen. Wie bereits erwähnt, haben sich schon mehrere Musikerkollegen geärgert, dass nach einem Neuaufsetzen des Geräts sämtliche Aufnahmen verschwunden waren. Zwar bieten Apps wie Voice Record vielfältige Speicherorte wie Dropbox oder Google Drive an, aber den direkten Beweis, dass Aufnahmen in einem hundskommunen iPhone-Backup gut aufgehoben sind, blieben alle Apps eher schuldig (gerne nehme ich Erfahrungswerte entgegen). Für ein Sharing der Aufnahmen hat sich seit jeher SoundCloud empfohlen.

Wenn es so etwas wie ein Fazit gibt: Praktisch jeder trägt heutzutage so ein Smartphone mit sich herum. Womit jeder zu einem potentiellen Field Recorder à la Lomax geworden ist. Für den Liederschreiber ist dieses Gerät ein Segen, hat man doch jederzeit die Chance, eine zugeflogene Idee sofort festzuhalten. Ausser man sitzt im Bus Nummer 4. Oder heisst Ray Davies.

Ein Beitrag von Tom Krailing