Die Zeitmaschine

Quantisierung spart Bandproben, Google Translation Service singt und Abba begleitet Madonna und Olifr M. Guz im Duett mit Louis Armstrong. Das digitale Tonstudio ist nicht nur Klangwerkstatt, sondern auch Zeitmaschine.

Bands vergangener Tage verzweifelten daran: Man spielte dreissig Takes, bis jemand entnervt die Tür schletzte, um draussen in ein Velo zu ginggen. Heute quantisiert man.

Timing nennt man das rhythmisch akkurate Zusammenspiel der Instrumente. Jeder Schrummelband ist es heute möglich, eine absolut exakt gespielte Aufnahme herzustellen.

Besässe er eine Zeitmaschine, würde der legendäre Musiker und Produzent Quincy Jones SEINE DREI MICHAEL-JACKSON-ALBEN DIGITAL PRODUIZIEREN? Bildmontagen: lz.

Die Unzulänglichkeiten der Bandmitglieder können mühelos ausgebügelt werden: Man setzt ihre Einsätze auf den zuvor quantisierten Beat, stimmt, stretcht und shrinkt, schon hat man sich 25 Takes gespart. Die Plug-In-Industrie macht es möglich.

Ausgerechnet in Hobbymusikerkreisen wehrte man sich lange dagegen. Es war die Rede von «Kälte» und «Leblosigkeit». Man bildete sich etwas auf seine musikalischen Schlabbrigkeiten ein und hielt sie für den Ausdruck von «Charakter». Es dauerte lange bis zur Erkenntnis, dass sich keine Sau dafür interessiert.

«Analog» und «digital» waren Glaubensbekenntnisse, wobei digital vom Teufel war. Viele konnotierten Überwachungsstaat und computergesteuerte Mittelstreckenraketen damit.

Inzwischen interessiert sich kaum noch jemand für diese Gruselgeschichten. Ein analoges 2-Zollband mit 20 Minuten Laufzeit kostet Fr. 320.-, ein paar Stunden Space auf einer Harddisk praktisch nichts. Auf die Fragen von gestern ist dies die Antwort von heute.

Tanzdruck

In Profikreisen kam die Digitalisierung sofort an. Zuvorderst in der Dance-Musik.

Hits leben nicht nur von eingängigen Melodien, sondern auch von tagesaktuellen Gimmicks. Das war in der Popmusik schon immer so und das digitale Tonstudio bietet viele davon. Mitleidig hört man sich heute die bä-bä-bä-bä-bä-Sampeleien aus den Achtzigern an. Doch darum ging es nur am Rand.

Digitale Klänge hatten eine bis dahin unbekannte Härte. Ihre sture Unnachgiebigkeit trieb nach vorne. Eine neue Art von Tanzdruck entstand. Vergleicht man einen Dance-Track von 2016 (z.B. Sleaford Mods: «Live Tonight») mit einem von 1978 (z.B. Blondie: «Heart of Glass»), so erscheint der 78er-Track lusch und labberig.

Unsere Hörgewohnheiten haben sich verändert. Die immer gleichen Wiederholungen suggerieren uns Geborgenheit im Diktat des Beats. Unstetes und Unregelmässiges lenkt uns ab und verunsichert. Wir haben gelernt, viele akustische Informationen in kurzer Zeit zu dekodieren. Ein Mensch aus den Fünfzigerjahren würde wohl manche aktuellen Charthits nur als zerhackte Geräusche wahrnehmen.

The Time Machine

Musik hat drei Dimensionen: Töne, Rhythmen, Klänge. Die Zeit als vierte Dimension war schon immer da, spielte aber aufgrund ihrer Unveränderbarkeit keine Rolle.

1991 kam der Song «My Definition of a Boombastic Jazz Stile» von der kanadischen HipHop-Band Dream Warriors in die Charts. Das Interessante daran war die Kombination moderner Sounds und Styles (Vocals) und dem Rest («Soul Bossa Nova» vom Quincy Jones Orchestra 1961). Die Dream Warriors inszenierten sich damit 1991 in eine dreissig Jahre alte Kulisse. Das war damals eine neue Dimension.

Zu den Klangfarben der Instrumente kam nun also die Klangfarbe historischer Technik. Erinnert sich jemand an «The Rockafeller Skank» von Fat Boy Slim? Wesentlicher Bestandteil war der knisternde Sample «Sliced Tomatoes» von Just Brothers aus dem Jahr 1972.

Es ist heute selbstverständlich geworden, Musikzitate und auch technische Zitate zu verwenden. Auch bei Hobbymusikern.

Gerade arbeite ich an den Aufnahmen einer Rockabilly-Band. Mit modernster Computertechnik modelliere ich dabei den Klang eines billigen Tonstudios im Jahre 1958 nach.

Besässen Blondie eine Zeitmaschine, SIE WÜRDEN sämtliche ihrer alten Alben DIGITAL PRODUZIEREN.

Billiges Tonstudio 1958 sieht so aus: Der Aufnahmeraum ist etwa 6×4 Meter gross. Die Wände sind mit Schaumstoff bedämpft. Da nur wenige Mikros zur Verfügung stehen, kommt es zu Übersprechungen, welche interessante Raumeffekte entstehen lassen. Die Sängerin ist dem Hauptmikrofon am nächsten, der Drummer am weitesten entfernt. Daher klingt die Sängerin präsent und das Schlagzeug defensiv und raumig. Die andern Instrumente stehen irgendwo dazwischen. Über das Ganze wobbelt ein eierndes, dynamisches Echo.

Genau so habe ich auch schon verrauschte Field-Recordings aus den 1930er-Jahren und aufgedonnerte 80er-Discoproduktionen gemacht.

Ich habe eine Sammlung von ca. 5000 Musiksamples der letzten hundert Jahre, aus denen ich neue Songs zusammenstelle. Ich habe auch eine Sängerin: die Sprecherin des Google-Translation-Programms. Ich lasse sie einen Text sprechen, stretche, shrinke und tune sie dann, bis sie singt, was ich mir vorstelle. Ich habe sehr viel Spass daran.

Die Verwendung und Herstellung historischer Klangzitate ist ein eigenes Instrument. Der Umgang damit bedingt musikalisches Gespür, Harmonielehre und musikhistorische Fantasie. Vierdimensionales Denken.

Ist die Verwendung der Werke und Mittel vergangener Zeiten aber nur ein billiges Retrogimmick?

Authenzititizät

Wir sind umgeben von Imitationen. Die Punkband imitiert den Klang des Lebensgefühls der 70er-Jahre. Die Swingband das der 40er-Jahre.

Künstler vergangener Zeiten waren gebunden an ihre technischen Möglichkeiten und kulturellen Hintergründe. Sie hatten nur begrenztes Wissen vom Schaffen anderer und waren auf sich selbst gestellt. Sie lebten und arbeiteten im Jetzt und waren deshalb authentisch. Dies gilt für altägyptische Maler genau so wie für Jazzmusiker der 20er-Jahre.

Es ist diese Authentizität, die wir bewundern und die uns berührt. Uns jedoch steht das gesamte Menschheitswissen zur Verfügung. Warum kann also eine digital produzierende Punkband 2016 trotzdem authentisch sein? Die Antwort lautet: Bier. Saufen war 1977 genau so echt wie 2016. Bier ist analog.

Am Ende zählt der individuelle Ausdruck. Manche nennen es auch «guter Song». Ob dieser aus Sauferei oder der Verwendung von digitaler Technik besteht, spielt dabei kaum eine Rolle (Sauferei dient natürlich nur als Beispiel, man muss sich nicht die Kante geben, um individuell zu sein).

Am Ende wollen wir eine Geschichte erzählt bekommen. Jeder, der eine Geschichte erzählt, verfälscht diese auch ein wenig für seine Zwecke. Jede Geschichte wird ein wenig trauriger, lustiger oder aufregender erzählt, als sie in Wirklichkeit war. Der Erzähler tut dies, um sich in ein interessantes Licht zu stellen und möchte damit selbst zu einer neuen Geschichte werden.

Es ist das Individuelle dieser Verfälschungen, die uns interessiert. Die Wahrheit ist für Mathematiker, Kunst ist unsere Interpretation von Wahrheit.

Was uns interessiert, ist immer analog.

Ein Beitrag von Olifr M. Guz