Loco for retro

Die Popmusik löst sich vor lauter Sehnsucht nach ihrer eigenen Vergangenheit, vor lauter «Retromania» selbst auf, kritisiert der Musikjournalist Simon Reynolds, und zwar befeuert vom gewaltigen Songarchiv im Internet. Stimmt das?

Sie sassen zusammen in einem versifften Wohnwagen, irgendwo am Stadtrand von Nashville. Neben sich je eine Pulle billiger Whisky, dazu jede Menge Gras. Trotzdem war Townes Van Zandt alles andere als entspannt. Sein Kumpel Steve Earle ging ihm wieder einmal mächtig auf die Nerven, das kam ab und an vor, denn Earle quasselte ununterbrochen, Wasserfall nichts dagegen. Also zwang ihn Townes, Russisches Roulette mit ihm zu spielen, ein Revolver lag meist irgendwo rum. Dann war jeweils Ruhe im Karton, und Steve Earle fiel kreidebleich in den Stuhl zurück, so wie eben gerade.

Befreundet blieben die beiden Songwriter dennoch. «Townes Van Zandt is the best songwriter in the whole world», sagte Earle einst. «And I’ll stand on Bob Dylan’s coffee table in my cowboy boots and say that.»

Von der Avantgarde zur Arrière-Garde

Hätte ich je von Van Zandt erfahren, diesem wunderbaren, verruchten texanischen Outlaw und Songwriter aus den 1970er-Jahren, der wie kein zweiter musikalische Gemälde der Hoffnungslosigkeit kreieren konnte, wenn ich keinen Zugang zu Youtube gehabt hätte? Wohl kaum. Wäre ich ohne dieses Portal je von seinen tiefgründigen Lyrics verschluckt und dann, ganz verknittert und halbwegs selbstmordgefährdet, wieder ausgespuckt worden? Eher nicht. Und genau dies ist prächtig. Aber eben nicht nur, findet manch weniger optimistisch getaktete Zeitgenosse.

Zum Bewahrer und Sammler ist sie geworden, die heutige Künstlergeneration, die Avantgarde zur Arrière-Garde mutiert, Nostalgie statt Invention ist angesagt. Eine sich immer schneller drehende Spirale der Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit blockiert das Schaffen neuartiger Musik. Kurzum: Unsere popkulturell geprägte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist von der Retromanie befallen. Diese Ansicht vertritt zumindest der Musikjournalist Simon Reynolds in seinem 2011 erschienenen Buch «Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past».

Die Voraussetzung, dass Reynolds’ Retromania-These greift, ist – man ahnt es – die digitale Revolution. Dank ihr lassen sich die weltweiten Bestände der Musik anzapfen. Streamingdienste wie Spotify, aber auch Youtube oder iTunes, garantieren hier ein gewaltiges Archiv, losgelöst von Zeit und Raum. Genau dies befeuert die Perpetuierung des Immergleichen, findet Reynolds, quasi der Hund, der sich in den eigenen Schwanz beissen will und deshalb wie von der Tarantel gestochen im Kreis rennt.

«We live in a pop age gone loco for retro», beginnt Reynolds sein akribisch recherchiertes Werk, das mit der eigentlichen Geburt der Popmusik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anfängt und in den Nullerjahren, eben dem «Retro-Jahrzehnt», endet. «Retromania» hatte eine eine weitreichende Debatte in der westlichen Musikbranche ausgelöst. Und, im Zentrum dieses Diskurses, die bange Frage, welche die Welt teilt wie ein Phil-Collins-Song: Gibt es sie noch, die «neue Musik»?

Sehnsucht nach Originalen

Doch zunächst: Warum sind wir so verrückt nach unserer Vergangenheit? «Die in Zitaten aufgelöste Gegenwart erzeugt eine Sehnsucht nach Originalen, wie man sie am ehesten in den verborgenen Winkeln der Popbestände zu finden glaubt», meint der Schweizer Musikjournalist Christoph Fellmann («Tages-Anzeiger»). «Und sei es, dass sie gar keine Musik mehr machen, sondern Kühlschränke entsorgen.»

RETROMANIA – WARUM POP NICHT VON SEINER VERGANGENHEIT LASSEN KANN, Simon Reynolds, 2012, Ventil Verlag. Übersetzt von Chris Wilpert.

Simon Reynolds These hierzu: Da wir uns für das Alte interessieren, wird nichts Neues geschaffen, sondern, in immer höherer Kadenz, vermeintliche «Perlen» und Kuriositäten aus vergangenen Musikepochen ausgegraben und neu aufgelegt. Ein Tsunami voller Revivals, Reunions, Reboots, Re-Issues sind die Folgen davon.

Ob solch pauschalisierender Kritik schlägt Reynolds oft blanker Hohn entgegen. So geschehen Anfang 2014: Als ich nämlich den Zürcher Blues-/Garagerocker Fai Baba Anfang 2014 mit der Retromania-Kritik konfrontierte, tat er sie als «unsinnig und dumm» ab. Von mangelnder Kreativität, Neues erschaffen zu können, wollte er schon gar nichts hören. Nur weil die Ästhetik und das Songwriting an frühere Werke erinnere, meinte der junge Musiker, sei seine Musik noch lange nicht alt, geschweige denn eine billige Kopie.

Gewiss, Reynolds Gedanken sind ungemein spannend, scharfsinnig, neuartig, bürsten gegen den Strich, doch greifen sie zu kurz. Er unterschätzt die schöpferische Potenz der Musikerinnen und Musiker, weshalb sein Buch «Retromania» eher einem kulturpessimistischen Rundumschlag – mehr noch: einer künstlerischen Kapitulation – gleicht als einer ernstzunehmenden Kritik.

Mehr als blosses Kopieren

«Well, now I’m out of prison», ächzt Townes Van Zandts Stimme vom Plattenspieler, verzweifelt und sarkastisch zugleich. «I got me a friend at last.» Ein Freund, der weder trinkt noch klaut, der nicht betrügt und auch nicht lügt. «His name’s codeine, he’s the nicest thing I’ve seen.» Als sässe er zusammen mit Simon Reynolds unter der Retromania-Käseglocke, hört man den Outlaw klagen: «Yeah, together we’re gonna wait around and die.»

Und das tat Van Zandt (genauso wie Reynolds Retromania-Befund das jetzt tut) schliesslich auch: Er starb, ausgezehrt von viel zu viel billigem Whiskey, erst 51-jährig. Zeit seines Lebens bewegte er sich am Rand zur Armut; zu einer Songwriter-Legende wurde er erst nach seinem Tod erhoben.

Doch ist das etwas Schlechtes? Freilich nicht. Denn wo Altes entdeckt wird, ist die Inspiration nicht weit. Das geht weit übers blosse Kopieren hinaus. Nichts in der Geschichte wiederholt sich in exakt derselben Weise, letztlich auch die Musik nicht. Und daher wird es sie immer geben, die «neue Musik». Obwohl, um Townes Van Zandt zu zitieren: «There’s only two kinds of music: the blues and zippety doo-dah.»