Aus Pfiff mach Pfeffer

Ein junger Unterländer streift tagelang durch Jagdreviere, Wildmetzgereien, Schlachthöfe, Drogerien und Restaurantküchen von Schaffhausen bis Savognin, um das Geheimnis eines hundertjährigen Rezepts zu lüften. Dabei erkennt er: Ein totes Tier kann mehr, als uns zu ernähren.

Bilder: Peter Pfister, Raphael Winteler, mr.

Ich sitze an einem Holztisch mit weissem Tischtuch, steche mit der Gabel in eines der dunklen Fleischstücke auf meinem Teller und führe die Gabel vorsichtig zum Mund. Doch noch bevor sich mein Gaumen zu Wort melden kann, schreit mein Gehirn: «Du Barbar, du isst gerade ein Murmeli!»

Einige Monate zuvor stöbere ich in einem Schaffhauser Antiquariat durch die alten Schinken, als ein unscheinbares, abgewetztes Büchlein in meine Hände gerät. Es gehörte vor vielen Jahren einer Lena Riffel. «Koch-Rezepte bündnerischer Frauen». 1905 wollten die Herausgeberinnen ihren Nachkommen zeigen, wie ihre Ahnen und Urahnen gekocht haben. Vielleicht hat es Lena Riffel dazumal von ihrer Mutter geschenkt bekommen, als sie ihren eigenen Haushalt gründete. Das Büchlein ist ein kulinarisches Scharnier – zurück in die Zukunft. «Das alte Gute behalten wir, Das neue Gute das suchen wir, Das alte Schlechte verlassen wir, Das neue Schlechte, das meiden wir.»

Als ich durch Rezepte für Hirnschnitten, Kapuzinerschnecken oder gedämpfte Froschschenkel blättere, bleiben meine Augen plötzlich hängen: «Murmeltier». Diese niedlichen Nager, eignen sich die tatsächlich für den Topf? Ich bezahle die acht Franken. Meine Recherche führt mich durch Metzgereien und Feinkostläden, doch als ich nach Murmeltier frage, rümpfen die Verkäufer nur die Nase. Ich könnte problemlos Krokodil, eine halbe Antilope oder ein Zebra kaufen. Ein Murmeltier aber, einen dieser alteingesessenen Alpenbewohner, suche ich in Schaffhausen vergebens. «Vielleicht finden Sie eines im Bündnerland …», rät Metzger Peter. Doch so schnell gebe ich nicht auf, jetzt erst recht nicht. «Das alte Gute behalten wir», steht da. Also werde ich selbst ein Murmeltier kochen, ich weiss ja jetzt, wie es geht.

Fett als Ethikschub

Anfang September empfängt mich Hannes Parpan in seiner Jagdhütte, etwas ausserhalb von Parsonz, eine Viertelstunde von Savognin entfernt. Hier tauscht der Bauunternehmer jedes Jahr den Schutzhelm gegen das Gewehr und pirscht drei Wochen lang durch die Wälder. Er hat sich bereit erklärt, mir den Rohstoff zu beschaffen, den ich in meiner Heimat nicht finden konnte.

Murmeltierjagd, wenige Meter neben dem Wanderweg: Jäger Hannes Parpan AUF DER PIRSCH.

Gleich bei meiner Ankunft sagt Parpan, dass er für gewöhnlich keine Munggen jage, obwohl ihm sein Patent acht Abschüsse pro Saison erlauben würde. «Munggenjagd ist Verhältnisblödsinn». Zieht man vom Lebendgewicht Fell, Fett und Knochen ab, bleibt nicht mehr viel Fleisch, das man verarbeiten könnte. Aber essen könne man die Tiere, versichert er mir. Ich bin also hier richtig.

Der 56-Jährige hat es auf Hirsche, Rehe und Gemsen abgesehen. Dafür muss er lange Märsche zu deren Territorien weit abseits der Zivilisation auf sich nehmen, oft ist er 16 Stunden unterwegs. Für mich will er sein Programm aber für einen Tag anpassen. Munggenjagd sei eigentlich nicht besonders schwierig. Doch über der Jagdhütte hängt dichter Nebel, und die Nager mögen Sonne. Bei schlechtem Wetter bleiben sie in der Höhle.

Lebendig ist so ein MURMELTIER vor allem: sehr sehr schnüsig.

Nichtsdestotrotz, die Sache ist einen Versuch wert, also los. «Wir müssen nur einige hundert Meter den Hang hinauf», sagt der Jäger. Die Munggen seien an Menschen gewöhnt und kämen immer mehr in die Täler herunter, wo sie mit ihren Tunnelsystemen die Wiesen der Bauern unterhöhlten. Darum müsse man den Bestand regulieren. Jährlich werden im Bündnerland rund 4’000 Murmeltiere geschossen, vorwiegend von betagten Jägern, die nicht mehr so gut zu Fuss seien, sagt Parpan. Ausserdem stünden Murmeltiere meist still vor den Eingängen ihrer Höhlen, wo man sie in aller Ruhe avisieren könne. Ein geschützter Jagdbetrieb.

Unweit der Hütte erblickt Hannes Parpan zwei Murmeltiere vor einem Erdhaufen. Der Distanzmesser zeigt 180 Meter Entfernung. Wir müssen näher ran, das Risiko eines Fehlschusses wäre zu gross. Bevor ein Jäger sein Gewehr anlegt, muss er das Tier «ansprechen»; er muss sichergehen, dass es alle Kriterien für einen Abschuss erfüllt. Das Tier darf nicht zu jung sein, und der Abschuss darf das Überleben der Familie nicht gefährden. Unsere Munggen erfüllen die Kriterien. Doch ich weiss nicht recht, ob ich das gut finden soll. Ich liebe ein gutes Stück Fleisch, aber in der Metzgerei ist das Fleisch längst tot.

Wir steigen langsam und möglichst geräuschlos über die rechte Flanke zu einer kleinen Krete. Doch die Murmeltiere haben uns bemerkt und pfeifen Alarm. Der verflixte Wind. Also richten wir uns ein und warten. «Oft kommen die Munggen nach 20 Minuten wieder aus den Höhlen», flüstert Parpan. Er liegt auf dem Bauch, das Gewehr auf dem Rucksack aufgestützt, ein Bein angewinkelt, das gibt Stabilität.

So schaut er minutenlang durch das Zielfernrohr, doch der Nebel wird dichter, Aufhellung ist nicht in Sicht. Den Tieren ist es zu unwirtlich. Nach einer halben Stunde geben wir auf und hoffen, dass das Wetter morgen besser wird. Auf dem Rückweg zur Hütte sammeln wir einen halben Ski ein. Im Hang, in dem wir jagen wollen, stehen Skiliftmasten, in Sichtweite unseres Lauerplatzes verläuft eine Strasse, auf der regelmässig Mountaincarts runterdonnern. «Wir müssen gut aufpassen, dass wir niemanden erschrecken», sagt Hannes Parpan. «Der Tourismus ist hier sehr nah, und die Jagd ist in der Bevölkerung nach wie vor umstritten.»

Ich könne den Nachmittag nutzen, um in einer spezialisierten Savogniner Drogerie dem Geheimnis des Murmeltierfetts auf die Spur zu kommen, schlägt Parpan vor. In meinem Rezept steht, das abgeschöpfte Fett der Murmeltiere sei «wertvoll zum Verkauf an Parfumeriegeschäfte, wo Pomaden daraus bereitet werden.» Auch zu medizinischen Zwecken sei es sehr gebräuchlich. Noch heute werden Gelenkschmerzen mit ausgelassenem Murmeltierfett behandelt. Das Fleisch wird also multipel verwertet, Ethikschub ahoj.

Eine Tradition braucht Palliativpflege

In der Drogerie gibt es eine ganze Palette Murmeltierprodukte. Murmeltieröl enthält Kortikoide, die entzündungshemmend wirken. In den Rheumasalben liegt der Anteil Murmeltieröl jedoch nur bei 20 bis 30 Prozent. Dazu kommen andere Öle und Kräuter. Das pure Murmeltieröl ist so aggressiv, dass es durch die dicke Glasflasche dringt und die Finger beim Halten fettig werden. Eine Jägerlegende besagt, Murmeltieröl fresse sich in der hohlen Hand mit der Zeit durchs Fleisch.

Die Salben seien bei den Kunden beliebt, sagt der Geschäftsführer der Drogerie. Aber reich werde damit niemand. Weder die Drogerie noch der Jäger. «Mehr als ein paar Franken können wir nicht bezahlen, das ist reiner Goodwill der Jäger.» Früher hätten die Älpler das Fett an der Sonne ausgelassen. Das sei schonender, habe aber oft Tage gedauert. Heute könne man sich das nicht mehr leisten, die Ölproduktion sei in einen modernen Prozess eingebunden.

Warum, zum Teufel, werden Murmeltiere überhaupt noch verarbeitet, wo doch gar niemand so richtig interessiert ist daran? Verhältnisblödsinn in der Metzgerei, Nullsummenspiel in der Drogerie. Ist das Palliativmedizin für eine aussterbende Tradition? «Das alte Schlechte verlassen wir.» Doch vielleicht kann der Goût des Munggenpfeffers den Nager als Nutztier rehabilitieren.

Am Abend erklärt mir Parpan in der Jagdhütte bei Spaghetti an Wildhack-Bolognese, dass der Munggenbestand früher zeitweise markant tiefer war als heute. Die Sennen auf der Alp hätten Munggen gefrevelt – mit Hunden und Schlingfallen. Ein Murmeltierbraten sei eine willkommene Abwechslung gewesen auf dem oft kargen Speiseplan. Doch damals, so Parpan, ging es um Kalorien, nicht um Kulinarik. Eine Alpküche ist kein Gourmettempel.

Im Bündnerland warnt mich jeder, der mit Murmeltieren zu tun hat, vor dem Fett. Ich müsse es vor dem Kochen minutiös wegschneiden. Und ich solle um Himmels Willen die Drüsen unter Armen und Beinen sorgfältig herausschneiden! Sonst sei das Fleisch ungeniessbar. In meinem Rezept von 1905 wird das Fleisch im Wasser «so lange eingeschmort, bis das überflüssige, reichliche Fett des Murmeltiers ausgetreten und dasselbe trocken geröstet ist.» Das klingt wenig vertrauenerweckend. Drüsen? Davon keine Silbe.

Am nächsten Morgen drückt die Sonne durch den Nebel. Wir nehmen den selben Weg wie am Vortag, und wieder erspäht Hannes Parpan schnell einen Mungg. Doch auch dieser bemerkt uns und verschwindet im Loch. Wir beziehen Stellung in 60 Metern Entfernung und warten. Nach wenigen Minuten ist der Mungg plötzlich wieder da und setzt sich in Bewegung. Noch bevor ich ihn sehe, ertönt ein lauter Knall, dann Totenstille. Parpan dreht sich um und lächelt. Ein paar Schritte zum Tatort. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Noch nie sah ich eine Tötung. Jetzt habe ich sie verursacht. Das Tier musste sterben, weil ich neugierig war.

Der Höhleneingang, vor dem der tote Mungg liegt, ist rot gesprenkelt. Dunkelrote Eingeweide, hellrotes Blut aus der Arterie, dazwischen Knochensplitter. An Zweigen hängen Fleischfetzen. Die Kugel hat beim Einschlag ein münzgrosses Loch in die linke Seite gerissen, die Austrittswunde ist gross wie ein Teller. Der Schütze zückt den Flachmann, Enzianschnaps, dann schreibt er den Abschuss ins Jagdprotokoll.

Seinen Einzellader lädt Parpan mit Teilmantelgeschossen. Die Kugel hat einen Durchmesser von 10,3 Millimetern und ist oben so angeschnitten, dass sie nach dem Eintritt aufpilzt. So stirbt das Tier durch den Treffer und die Kugel geht nicht durchs Gewebe hindurch. Das ist sinnvoll bei Hirschen oder Gemsen, für die kleinen Murmeltiere ist die Munition viel zu gross. Doch in Graubünden ist keine kleinere Jagdmunition erlaubt. Die Murmeltiere sind so unbedeutend, dass das Jagdgesetz keine Rücksicht auf sie nimmt. Also visieren die Jäger beim Mungg den Kopf an. Später, beim Metzger, wird sich herausstellen, dass wir durch den Schuss in die Seite einen Viertel des Fleisches verloren haben.

Parpan kann lesen, was ich denke, und mahnt mich zur Vorsicht, wenn ich das Erlebte zuhause aufschreibe. Ich darf den Tatort nicht fotografieren. Der Jäger kennt die Medien, war lange Jahre CVP-Grossrat in Graubünden und ist im Vorstand des Bündner Patentjäger-Verbandes. Er weiss, dass die Jagd auch Feinde hat. «Jagen ist Töten. Da sind immer Emotionen im Spiel». Das Murmeltier sieht jetzt aus, als würde es schlafen. Bewegt man es aber, merkt man, dass die ganze Energie aus dem noch warmen Körper gewichen ist. Es ist jetzt nur noch eine Hülle. Doch so blutig das Töten war, mit dem Leben des Tiers ist auch die Nervosität wie weggeblasen. «ich habe getötet, um zu essen.» Das ist er wohl, der Urinstinkt des Jägers. Eine gute Prise Pathos inklusive.

Murmeltieressen sind im Bündnerland gesellschaftliche Anlässe. Man feiert die Tradition. Also will auch ich eine grosse Tafel. Die Leute wie Hannes Parpan, die mir geholfen haben, sollen beim Essen dabei sein. Wir wollen zusammen beurteilen, ob sich Murmeltiere zum Verzehr eignen. Doch das eine Tier gibt nicht genug her. Wir brauchen ein zweites.

Nach einigen Minuten wird Parpan erneut fündig. Diesmal liegen wir etwas erhöht, der Mungg steht auf einem Geröllhaufen. Der Jäger legt an, schiesst … und flucht. Durch den Feldstecher sehe ich, wie sich die Schnauze des Tiers rot färbt, doch es lebt. Ein Streifschuss. Zwei Zentimeter weiter links, und vom Kopf wäre nicht mehr viel übrig. Doch jetzt bewegt sich der Mungg zweimal hin und her und verschwindet dann im Bau. Parpan hat keine Zeit nachzuladen. Ob das Tier überlebt, ist unwahrscheinlich. Schiesst ein Jäger ein grösseres Tier an und tötet es nicht, stellt er ihm nach, bis er es findet. Zur Not mit einem Schweisshund. Doch im Murmeltierbau ist der Jäger machtlos. Jagd findet auf einem schmalen Grat statt. Parpans Lächeln ist verschwunden. Wir brechen ab und gehen zurück zur Hütte. Auf dem Heimweg will der Jäger nicht reden.

Eine Anleitung zur Vergewaltigung

Bei der Jagd geht es auch um Anerkennung. Jagen ist Wettbewerb. Beim Bier vor der Hütte stossen drei Jäger zu uns, die von der Pirsch zurückkehren. Die Gesichter sind wettergegerbt, an jeder dritten Hand fehlt ein Finger. Als sie zu diskutieren beginnen, sprechen sie eine Art Geheimsprache. Die drei wissen genau, wer wo was geschossen hat. Anerkennende Worte bekommt, wer besonders mächtige Tiere vorzeigen kann. Über Whatsapp zirkulieren Fotos. «Ein Mungg zählt da nicht viel», sagt Parpan später, der sich nach seinem Fehlschuss bei der Diskussion zurückgehalten hat. Doch ich brauche diesen zweiten Mungg.

In einer grossen Metzgerei in Savognin sagt mir der Geschäftsführer, ich solle ihn zu seinem Schlachthaus begleiten. Dort habe er ein paar Munggen. Im Kühlraum sind rund 50 Hirsche, Rehe und Gemsen an Metallhaken aufgereiht. Ein felliges Gruselkabinett. Dazwischen hängen vier Murmeltiere, doch sie sind alle etikettiert und bereits für Restaurantküchen bestimmt. Der Metzger bezahlt einem Jäger für ein Murmeltier 25 Franken, 30 für einen Kopfschuss. Das präparierte Fleisch kostet in seiner Auslage 25 Franken pro Kilo. Die Marge berechnet sich nach dem Aufwand, und der sei beim Murmeltier sehr gross. Als Savogniner Metzger gehört es sich, Murmeltierfleisch anzubieten. Die Renovation seiner Metzgerei hat er aber eher mit Gemsen und Hirschen finanziert. Der «Verhältnisblödsinn» bestätigt sich. Ich werde nach Bivio zum Hotel Solaria geschickt, dort könnte ich vielleicht einen Mungg bekommen.

Fazit von Metzger Emil Suter: Das Murmeltier erinnert geschmacklich und vom Körperbau her an einen WILDHASEN.

Solaria-Wirt Giancarlo Torriani ist eine Koryphäe. Sein Murmeltierragout hat er schon zusammen mit Nik Hartmann fürs Schweizer Fernsehen gekocht. Das Ragout wird auf der Karte als spezielle Delikatesse angepriesen, zu stattlichem Preise. Etwa hundert Murmeltiere verarbeitet er pro Jahr. Torriani scheint der einzige zu sein, der auch finanziell einen Nutzen aus den kleinen Nagern ziehen kann. Hier bekomme ich tatsächlich ein Murmeltier, tiefgefroren, aber noch im Fell. Als Torriani mein hundertjähriges Rezept sieht, warnt er: «Einfach im Essig gekocht, eine Vergewaltigung am Murmeltier!» Ich dürfe das auf keinen Fall so zubereiten. Zur Inspiration gibt er mir sein Rezept mit auf den Weg. Moderne Haute Cuisine. «Das neue Gute, das suchen wir.» Nun bin ich gewappnet und fahre zurück ins Unterland.
Irgendwie schaffen es die Bündner als Gemeinschaft, die Murmeltiertradition weiterzuführen, obwohl sie einzeln kaum davon profitieren können. Die Tradition lebt von Freundschaftsdiensten – die Wiesen der Bauern werden geschützt, Kranke kriegen ihre Salben, Köche ihr Fleisch, Touristen ihre Attraktion. Und auch ich bekomme hier, weshalb ich hergekommen bin.

In der Metzgerei von Emil Suter in Thayngen sehe ich den «Verhältnisblödsinn» mit eigenen Augen. Der inzwischen pensionierte Suter war über vierzig Jahre Wildmetzger, ein Murmeltier hatte er aber noch nie in den Händen. Für mich wagt er die Premiere. Mit dem Messer geht er bei der Pfote unters Fell und arbeitet sich langsam nach oben. Es erscheinen die dicken Fettschwarten, vor denen ich gewarnt wurde. Ist das Fell erstmal abgetrennt, schneidet der Metzger das Fett fein säuberlich weg. Das braucht Zeit, und der Ertrag ist klein. Bei anderen Wildtieren sei er grösser, aber das Fett müsse auch dort weg, denn Fett sei ein Geschmacksträger und würde den Geschmack überintensivieren. Für die alten Älpler war gekochtes Murmeltierfett während strengen Wintern weisses Gold. In meiner Hausapotheke vertraue ich auf Voltaren.

Auch den Drüsen-Mythos zerstört der Metzger. Drüsen gebe es auch bei anderen Wildtieren. Man sehe die dunklen Kügelchen gut im Fett und schneide sie zwangsläufig mit weg. Von der Anatomie her sei das Murmeltier am ehesten mit einem Wildhasen vergleichbar, sagt Suter, während er mit einem schnellen Ruck den Halswirbel bricht und den Kopf abschneidet. Mit jedem Handgriff wird das Tier anonymer. Der kalte Körper ist jetzt nahezu geruchlos, und als der Metzger von der Knochensäge zurückkommt, deutet nichts mehr darauf hin, dass in den dunkelroten Fleischstücken einmal Leben steckte. In einer Stunde wurden aus zwei Murmeltieren 2,8 Kilogramm Fleisch und Knochen.

Die fiesen Tricks der Haute Cuisine

Am nächsten Tag bringe ich das Fleisch zu Schützenstube-Wirtin Annegreth Eggenberg. Sie wird die Murmeltiere mit mir zusammen kochen. Und auch sie war skeptisch, als ich ihr mein Rezept gezeigt hatte. Also werden wir es neu interpretieren. «Das alte Gute behalten wir, das neue Gute, das suchen wir.»

Zuerst wird das Fleisch kurz im heissen Wasser erwellt, damit auch das intramuskuläre Fett austritt, das man nicht herausschneiden kann. Dann legen wir das Fleisch in eine Beize ein, bestehend aus selbst gemachtem Balsamico, Rotwein, Gewürzen und einem Mirepoix aus verschiedenen Winter­gemüsen. Hier soll es ein paar Tage ziehen können.

Am Tag des Gelages nehmen wir das Fleisch aus der Beize, braten es an, schöpfen das Mirepoix ab und kochen die Beize separat auf. Nun kommen Tamari-Sauce und schwarze Schokolade hinzu. Letztere substituiert das Schweineblut, das traditionellerweise in einen Wildpfeffer gehört, und dickt die Beize ein. Abgerundet wird die Sauce mit Bayrischem Saucenlebkuchen. Später kommen Fleisch und Sauce wieder zusammen. Mehr liegt nicht in unserer Macht. Doch wird das reichen?

Dann kommen die Gäste. Das Fleisch ist flankiert von Pizokel, Lauch und Pfälzer Rüben aus dem Wasser, Pastinaken in Butter und Kohl in Süssmost. Doch vielmehr interessiert die Frage: Ist das ein Festessen oder ein barbarischer Akt? Wir riechen, kauen, starren konzentriert in die Leere und bleiben etwas ratlos zurück. Der Murmeltierpfeffer schmeckt vorzüglich, Bestnoten für die Köchin. Aber ob auf unseren Tellern Murmeltier, Hirsch oder Gemse liegt, hätten wir im Blindtest allesamt nicht herausgefunden. Die Sauce übertüncht den Eigengeschmack – je minderwertiger das Fleisch, desto schmackhafter die Sauce – ein geschicktes Täuschungsmanöver der modernen Haute Cuisine. Dennoch: Ja, man kann Murmeltier essen. Und ja, es schmeckt gut. Sogar der Quotenvegetarier würde «an einem solchen Anlass wieder einmal Fleisch essen.» Und eigentlich geht es hier genau darum, um den Anlass.

Köchin Annegreth Eggenberg (Mitte) trug als Kind den Spitznamen «MUNGG». Höchste Zeit also, selbst einen zuzubereiten.

Das Murmeltier ernährt nicht nur, es bringt zusammen. Es führt den vielbeschäftigten Bündner Bauunternehmer mitsamt Partnerin nach Schaffhausen, wo sich die beiden nach dem Essen und vielen Flaschen Wein in mein WG-Gästebett legen. Es verleitet den Vegetarier, wieder einmal über den Tellerrand zu schauen. Zwei tote Murmeltiere lassen einen den Horizont erweitern. «Das alte Gute behalten wir, Das neue Gute, das suchen wir.»