Mit Köpfchen und Schafferhänden

Alle jungen LandwirtInnen folgen einer ­Familientradition, wählen SVP, lechzen nach Subventionen und schimpfen über den Milchpreis? Falsch. Ein Besuch bei Sibil Brassel auf dem Hof Brunnmatt.

Mit dem Label DEMETER werden Produkte versehen, die nach anthroposophischen Prinzipien von Rudolf Steiner erzeugt werden. Bei der sogenannten biologisch-dynamischen Landwirtschaft wird ein Betrieb als Organismus gesehen. Je vielfältiger er produziert, desto stabiler sind er und seine Umwelt. Bilder: mr.

Erdige Kartoffeln holpern gemächlich, aber zahlreich über das Fliessband des Hofs Brunnmatt im Bernbiet. Acht flinke Hände in Gartenhandschuhen greifen sie zielsicher und sortieren sie in Holzkisten. Schlechte, Gute, Saat. Zwei der Hände, die zwei grössten, gehören Sibil Brassel. Es sind Schafferhände, die nicht so recht zum lieblichen Gesicht passen und gern darüber hinwegtäuschen, dass die 23-Jährige keine klassische Bäuerin ist, sondern nach vier Jahren Kantonsschule an die Uni wollte, bevor sie eher zufällig in die Landwirtschaft geriet.

Zwei Stunden zuvor fährt sie mit dem Transporter beim Bahnhof Vielbringen im Berner Mittelland vor und lässt einsteigen. Sie kommt vom Milch­ausliefern, der Tag ist satt verplant. Nachher aber, beim Hof, habe sie wohl noch rasch Zeit, alles zu zeigen. Hof Brunnmatt gehört zur Stiftung Humanushaus, die sich als sozialtherapeutische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft beschreibt. Zwölf Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung finden Platz unter dem Dach der Stiftung, deren Kern verschiedene Werkstätten bilden.

Die fünfköpfige Wohngruppe auf dem Brunnmatt wird bei vielen Arbeiten natürlich in den Prozess integriert. Während Sibil Brassel und drei weitere Angestellte Kartoffeln sortieren, fahren Mischa und Paula die vollen Kisten weg, bringen leere zurück und klopfen Sprüche. Vor allem die Gegner des SC Bern kommen nicht gut weg. Es ist April, Eishockey-Zeit, Playoffs. Der Umgang ist herzlich und körperlich. Wenn das Fliessband mal stoppt, wird Sibil sofort innig geherzt. «Ha di vermisst!», ruft Paula, die am Vortag nicht auf dem Hof war.

Ökonomie ist zweitrangig

Der Betrieb ist weniger produktiv als herkömmliche Höfe. «Mit so vielen verschiedenen Leuten ist es nicht immer ganz einfach, die Arbeit zu planen», sagt die Nachwuchsbäuerin. Ausserdem ist Brunnmatt ein Demeter-Betrieb. Die Kartoffeln etwa werden nicht mit keimhemmendem Pulver bestäubt wie in der herkömmlichen Landwirtschaft. Auf der Wiese weidet gehörntes Braunvieh, das ausschliesslich mit Gras und siliertem Mais ernährt wird – ohne Antibiotika. Dafür werden die Kühe schonend gemolken. «Milchgeben ist Hochleistungssport», sagt Sibil.

Die Kühe auf Brunnmatt geben neben Milch, die jeden Montag in der hauseigenen Käserei verarbeitet wird, auch Fleisch. Undenkbar bei herkömmlichen Milchkühen. Neben dem Braunvieh leben auf dem Hof Pferde, Ziegen, Schweine. Einen direkten ökonomischen Nutzen haben sie nicht, aber ist der so wichtig? Hier dominieren andere Kategorien. Es ist das perfekte Bauernhofidyll, eingebettet zwischen saftigen Wiesen, einem offenen Stall und modernen Folientunnels für vielerlei Gemüse. Doch was verschlägt eine 23-jährige Schaffhauserin nach der Kanti hierher?

«Ich esse halt gern», versucht Sibil zu erklären. «Vor allem gute Produkte.» Aber eigentlich habe sie nach vier Jahren Kantonsschule schlicht keine Lust mehr gehabt auf reine Kopfarbeit. Also ging es auf Reisen. Das Geld dafür verdiente sie auf dem Demeterhof Schneller & Graf in Rudolfingen, der seine Ware auch auf dem Schaffhauser Wochenmarkt verkauft. Dort kauft ihr Vater, ein Rechtsanwalt, ein, seit sie klein ist. Für Sibil hat es gepasst, sie ging nach dem Reisen immer wieder zurück. Und nachdem sie gemerkt hat, dass das naheliegende Agronomiestudium wohl doch nicht die richtige Wahl ist, war die Lehre die logische Konsequenz.

«Ich wollte das Handwerk von Grund auf lernen», sagt sie. Doch die geistige Auseinandersetzung mit der Arbeit soll nicht fehlen. Sibil Brassel fragt sich etwa: «Wenn der Mond die Gezeiten beeinflussen kann, wieso soll er das nicht auch mit dem Saft der Kartoffel tun und sie lagerfähig machen?» Antworten erhoffte sie sich von einem Jahr an der biologischen Landwirtschaftsschule Bioschwand in Bern. Der Sprung nach Vielbringen war dann ein kleiner. Es war wohl der richtige.

«Sie kann anpacken»

Mittlerweile sind die zwei Tonnen Kartoffeln sortiert. Nun gilt es, die kleinen Kälblein von der Weide in den Stall zu treiben. Es war ihr erster Tag auf der Weide, dementsprechend übermütig sind sie und schwer einzufangen. Bewohner und SCB-Fan Mischa zückt alle Register und als die Gruppe irgendwann entscheidet, das letzte, widerspenstige Kalb vorläufig auf der Weide zu lassen und zu hoffen, es gehe später von selber in den Stall, ist er nicht mehr zu halten.

Bewohnerin PAULA MAG SIBIL. Obwohl sie eigentlich längst Feierabend hätte, hilft sie ihr kurz vor Eindunkeln im Melkstall.

«I het da scho chöne!», wütet er. Sibil lässt ihn schmollen, nimmt ihn aber auch ernst. Nach wenigen Minuten Diskussion ist die Welt wieder in Ordnung. Einige Wochen später wird sie ihn beherzt aus einem Brunnen ziehen, in den er nach einem epileptischen Anfall gefallen ist, und ihm damit das Leben retten. «Sie kann gut mit den Bewohnern», sagt ihr Chef Andreas Meyer noch vor dem Vorfall. «Und sie zieht, kann anpacken.»

Meyer, aufgewachsen auf einem herkömmlichen Bauernbetrieb, leitet den Hof Brunnmatt seit Jahrzehnten. Meyer erklärt, für seinen Betrieb sei das Überleben nicht immer einfach. Als Stiftung erhält man keine herkömmlichen Subventionen, nur Öko-Direktzahlungen. Dafür werde die Betreuung, die rund 50 Prozent der Arbeit auf dem Hof ausmache, von der IV bezahlt. Er ist nicht nur Bauer, sondern auch Betreuer und hält die Hierarchien flach. Immer wieder fragt er Sibil oder andere Lehrlinge um Rat, lässt sie selbstständig arbeiten.

Zwei Monate später, im Juni, ist Sibils Jahr auf Brunnmatt um. Aber die Arbeit in einer Kooperative mit ständigem Austausch hat Eindruck hinterlassen. Sowas könne sie sich für später gut vorstellen. «Ich würde auch gerne mal in einem klassischen Betrieb arbeiten», sagt sie. «Um das mal auszuprobieren.» Aber längerfristig auf einem traditionellen Familienbetrieb? «Schon die Vorstellung engt mich ein.»