Auslese: Politik beginnt in den Kinderschuhen – beim Erzählen von Geschichten.
Seit Menschengedenken stellt sich der Mensch immer wieder dieselben Fragen. Woher komme und wohin gehe ich? Wie erkenne ich, was ist und was kann ich wissen? Woher kommt dies und jenes und warum? Wie handle ich richtig? Oder: Was macht ein Leben in seiner Endlichkeit lebenswert? In Religion und Philosophie, doch auch in den naturwissenschaftlichen Disziplinen forschen und ringen Gelehrte um gültige Erkenntnisse.
Und stets beginnt das einzelne Individuum am Nullpunkt, ganz am Anfang. Wenn die X-Achse die Lebenszeit und die Y-Achse das erworbene Wissen darstellt, so neigen wir heute zur Ansicht, dass wir auf unserer persönlichen Y-Achse viel höhere Werte erreichen als frühere Zeitgenossen und mancher ist stolz darauf, dass er z.B. alle Funktionen seines Smartphones beherrscht. Allein: wissen wir deshalb mehr vom Leben und haben wir am Lebensende unseren Nachkommen auch wirklich eine Geschichte zu erzählen, die Spuren hinterlässt?
Kleine Kinder benennen gerne, möchten wissen, was dies und das bedeutet, woher es kommt, warum dies so ist und nicht anders. Zwei jüngst erschienene Bilderbücher illustrieren eindrücklich, wie gut erzählte Geschichten Wissen auf eine nicht kognitive Art, intuitiv vielmehr, nicht nur vermitteln, sondern auch dazu beitragen, sowohl die intellektuellen Fähigkeiten zu stimulieren wie auch ein ethisches Verständnis zu entwickeln.
Die 1971 im Mecklenburg geborene Illustratorin Kristina Andres legt mit ihrem jüngst erschienen Band «Suppe, satt, es war einmal» ein sensationelles Bilderbuch vor. Der auf den ersten Blick etwas seltsame Titel macht wahrscheinlich schon einmal den eilig lesenden Erwachsenen ratlos; und weil das Titelbild, zwar durchaus kindsgerecht, doch traditionell illustriert – eine gute Stube mit Bullerofen und putzigen Tierchen – nicht wirklich moderne Coolness vermittelt, droht dem Band wahrscheinlich bald der Gang ins Vergessen.
Wagen Sie jedoch für Ihre Kinder, Götti- oder Enkelkinder einen zweiten Blick ins Buch und lassen Sie sich verführen von der erzählerischen Kraft und Magie dieser Geschichte: Vor langer, langer Zeit lebten die Menschen in geduckten Häusern in tiefen Wäldern und im Winter heulten die Wölfe um die kargen Hütten. In einem dieser Dörfer wohnte eine (alleinerziehende) Mutter mit ihrer Tochter Mathilde; die Mutter, offenbar Hebamme, wurde zum Kreissen in ein anderes Dorf gerufen. Mathilde blieb zuhause und die Mutter schärfte ihr ein: Lass keine Wölfe ins Haus, sie fressen unsere Tiere, ja gar dich selbst. Die Mutter verliess das Dorf – und nachts heulten die Wölfe um das Häuschen und heulten Huhuhunger!!!
GEORG FREIVOGEL ist Buchhändler und betreibt das «Bücherfass» an der Webergasse. Seine Kundschaft schätzt ihn als Berater, der immer den passenden Lesetipp bereit hält.
Hunger war das einzige Wort, das die Wölfe kannten. Mathilde aber kannte drei Begriffe: Suppe, satt, es war einmal. Sie begann also Suppe zu kochen, in einem riesigen Pott. Die Wölfe, mit gelb blakenden Augen, stürmten alsbald das Haus und – schlürften gierig die vorgesetzte Suppe, bis sie satt waren und anschliessend begann Mathilde: Es war einmal… Lesen Sie nun selbst und staunen Sie darüber, mit welcher Leichtigkeit Sie Altbekanntes über Wild- und Haustier aus neuer Sicht lernen werden.
Ganz anders das ergreifende Bilderbuch von Ulf Nilsson (Text) und Eva Eriksson (Bilder): Als Oma seltsam wurde. Erzählt wird die Geschichte von einem namenlosen Jungen, der jeweils den Donnerstag bei seiner Grossmutter verbringt. An einem dieser Tage, wo wie immer der Bäcker mit seinem Brotwagen vorbeikommt und der Junge einen Keks kriegt, schläft jedoch die Oma länger als gewohnt, und als er sie weckt, fragt sie ihn: Wer bist du? Er antwortet: ich. Da meint sie: Du, John? So heisst jedoch mein Vater, denkt er. Die Grossmutter, das merkt der Junge, ist verwirrt, doch weshalb? Und für wen ist das bedrohlich? Der Junge spürt intuitiv, dass die Oma Hilfe braucht, allein, reicht da sein Pfeilbogen hin? Subtil zeigt der Autor, dass Kinder an Unausweichlichem nicht zerbrechen, wenn sie mit angemessener Offenheit konfrontiert werden mit dem, was nicht zu ändern ist.
Ein Gastbeitrag von Georg Freivogel