Wohin mit den Alpen?

Alles ändert sich, und das immer schneller. Nur die Alpen und der sinnlose Zeitvertreib der Jugend trotzen jeder Veränderung.

Die freie Sicht aufs Mittelmeer ist im Zeitalter der Billigfluggesellschaften leicht zu haben. Billige Flüge ans sonnige Meer gibts schon ab 30 Franken. Und bald werden wir das Stranderlebnis im Wohnzimmer in der Schweiz erleben können, mittels 3D-Fernseher. Oder wir zaubern ein Hologramm des Mittelmeeres an den Himmel über dem Engiweiher und das Rauschen des Meeres hören wir live am Radio wie das Feuerwerk vom Rheinfall. Den Geruch des salzigen Meeres können wir uns bestimmt bald in den Varianten Ostsee, Pazifik, Totes Meer und Atlantik als iFeel App herunterladen. Wollen wir ausgefallenere Düfte, müssen wir zwei Franken zusätzlich bezahlen.

Früher, da war alles anders. Das Meer lag zwar in Reichweite, aber easyJet gab es noch nicht. Der Drang nach dem Exotischen war stark. Die jungen Schweizer wollten aus ihren Betonmauern ausbrechen. «Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mittelmeer!», schrie die aufgebrachte Jugendbewegung der achtziger Jahre und rüttelte am zentralen Identifikationsmassiv der Eidgenossen – an Eiger, Mönch und Jungfrau. Das ist jetzt 30 Jahre her und die Alpen sind immer noch da, gewaltig, imposant, schattenwerfend.

Doch es keimt Hoffnung. «Schweiz ohne Schweiz. Alpenlose Landschaften» heisst der Titel der letzten Sonderausstellung im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen. Bilder, die eben nicht die typische «Schweiz» darstellen, warteten auf die BetrachterInnen. Da war eine Fotografie: blauer Himmel, grüner Wald und ein kleiner See. Der See entpuppt sich bald als Pfütze, die von einem Schweizer Panzer herrührt, das hübsche Bild zerbricht. Doch die freie Sicht aufs Mittelmeer konnte man in der ganzen Ausstellung nirgends finden – ein fertiger Reinfall das Ganze.

Also doch mit einer Billigfluggesellschaft ab nach Italien! Das Flugticket ist ja schliesslich fast für den gleichen Preis wie die Eintrittskarte fürs Museum zu haben. Natürlich kann man es auch wie jeder normale Jugendliche machen und die Schweizer Alpen auf seiner Spielkonsole mit der persönlichen F/A 18 wegballern und sich die freie Sicht verschaffen, zum unendlich tiefen Blau. Man stelle sich vor: Egal wie tiefblau er war – wer hätte sich damals in den Achtzigern gedacht, dass sein utopischer Traum 30 Jahre später im Hardcore-Kapitalismus in Erfüllung gehen würde? Natürlich nur virtuell – aber das übersteigt die Vorstellungskraft des Jugendlichen aus den Achtzigern.

Damals, vor 30 Jahren, brannte Zürich und die Jugend hatte Träume von einer besseren Welt. Heute, nach einer exotischen Fussballweltmeisterschaft, wissen wir: Der Ball ist rund und das Getröte der Vuvuzelas kann man, trotz moderner Technik, nicht aus dem viereckigen Kasten herausfiltern.

In Zürich wird übrigens zur Zeit der erste Wolkenkratzer gebaut: Der soll «Prime Tower» heissen und das finden die Zürcher huurä gail, weil sie wieder mal die Ersten sind und der Koloss der Limmatstadt einen urbanen Touch verleiht. Zürich protzt mit Geld, die Investoren werten sogar den Kreis 4 mitsamt Langstrasse auf und am Seefeld gibt es unter 3000 Franken bald keine Wohnung mehr. Zwischen den prunkvollen Palästen geht das Opernhaus förmlich unter.

Damals in den 80ern aber belagerten am Abend des 30. Mai mehrere hundert Jugendliche das Opernhaus. Es wurde gegen die einseitige Kulturpolitik demonstriert. Gegen 60 Millionen Franken, die der Stadtrat für die Opernhaus-Sanierung bewilligte. Für die Anliegen der Jugend hatte er aber kein Gehör. Und heute? 60 Millionen sind ein Mückenschiss, verglichen mit dem Rettungspaket, das für die UBS geschnürt wurde.

Gegen wen demonstriert die Jugend heute? Gegen den Staat? Wer ist für das Wirtschaftsdesaster verantwortlich? Ospel, Ackermann oder doch die Regierung – also George Bush?

Jetzt haben wir den Salat! Und am schwachen Euro sind die Griechen Schuld? Nein, die Deutschen! Weil sie mit dem Euro angefangen haben! Letztlich sind dann aber doch die Amerikaner schuld! Also Bush – egal ob Junior oder Senior: Beide sind gleich Bush und gleich schuld. Was macht die Jugend? Sie sitzt neben dem Busch am Lindli und gibt sich die Kante. Sie trinkt bis zum Umfallen. Dann, zu Boden geschmettert, rauschen die Wellen des Mittelmeers im blauen Himmel tief in den Köpfen der Jugendlichen.

Botellón nennt sich das. Und die Erwachsenen regen sich immer noch furchtbar auf, wie damals in den Achtzigern, weil ihnen das, was die Jugend da macht, so sinnlos erscheint wie die Opernhaus-Sanierung.

Ein Beitrag von Till Burgherr.